Goethes Briefe: GB 2, Nr. 263
An Augusta Louise Gräfin zu Stolberg-Stolberg

〈Frankfurt a. M.〉 , Offenbach , 〈Frankfurt a. M.〉 , 14.–19. September 1775. Donnerstag–Dienstag → 〈Schloss Bernstorff bei Kopenhagen〉


Ja lieb Gustgen gleich fang ich an dℓ. 14 Sept. im Moment da ich ihren Brief endige, sehen Sie wie hoch und klein, wie viel ich zu schreiben dencke. Heut bin ich ruhig, da liegt zwar meist eine Schlang im Grase. Hören Sie, ich hab immer eine Ahndung ​1, Sie werden mich retten, aus tiefer Noth, kanns auch kein Weiblich Geschöpf als Sie. dancke ​2 zuerst für Ihre lebendige Beschreibung alles was Sie umgiebt, hätt ich nur iezt noch einen Schattenriss von Ihrer ganzen Figur! Könnt ich kommen. Neulich reisst ich zu Ihnen! Durchzog in trauriger Gestalt Deutschland, sah mich weder rechts noch lincks um, nach Coppenhagen, und kam und trat in ihr Zimmer, und fiel mit Trähnen zu ihren Füssen, und rief Gustgen bist du s! – Es war eine seelige Stunde, da mir das lebendig im Kopf und Herzen war. Was Sie von Lili sagen ist ganz wahr. Unglücklicher Weise macht der Abstand von mir das Band nur fester das mich an sie zaubert. Ich kann ich darf Ihnen nicht alles sagen. Es geht mir zu nah ich mag keine Erinnerungen. Engel! Ihr Brief hat mir wieder in die Ohren geklungen wie die trompte dem eingeschlafnen Krieger. Wolte Gott Ihre Augen würden mir Ubalds Schild, und liessen mich tief mein unwürdiges Elend erkennen, und – Ja Gustgen wir wollen das lassen – über des Menschen herz lässt sich nichts sagen, als mit dem Feuerblick des Moments. Nun soll ich zu Tische.

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​Nach Tische. dein Gut Wort würckte in mir, da sprachs auf einmal in mir, sollts nicht übermäsiger Stolz seyn zu verlangen, dass dich ganz das Mädgen erkennte und so erkennend liebte, erkenn ich sie ​3 vielleicht auch nicht, und da sie anders ist wie ich, ist sie nicht vielleicht besser. ——— Gustgen! – Lass mein Schweigen dir sagen, was keine Worte sagen können.

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Gute Nacht Gustgen! heut einen guten Nachmittag, der selten ist – mit Grosen, das noch seltner ist – Ich konnte zwey Fürstinnen in Einem Zimmer lieb u. werth haben. Gute Nacht. Will dir so ein tagbuch schreiben, ist das beste. Thu mir's auch so. ich hasse die Briefe und die Erörterungen, und die Meynungen. Gute Nacht! So! — ich sehe zurück, schon dreymal, ists doch als wenn ich verliebt in dich wäre! und den Hut immer nähme und wieder niederlegte. Wie wollt ich du konntest nur acht Tage mein Herz an deinem, meinen Blick in deinem fühlen. Bey Gott was hier vorgeht ist unaussprechlich fein und schnell und nur dir vernehmbar

Gute Nacht. /


dℓ. 15. Guten Morgen. Ich hab eine gute Nacht gehabt. Und bin ietzt recht wie ein Mädgen. Sie rathen ​4 nicht was mich beschäfftigt. eine Maske, auf kommenden Dienstag wo wir Ball haben.

= Nach Tisch! – Ich komme geschwind gelaufen, dir zu sagen was mir drüben in der andern Stube durch den Kopf fuhr: Es hat mich doch kein Weiblich Geschöpf so lieb wie Gustgen.

= Und meine Masque wird eine altdeutsche Tracht, schwarz und Gelb, Pumphose, Wämslein, Mantel und Federstuzhut. Ach wie danck ich Gott dass er mir diese Puppe auf die paar tage gegeben hat, wenns so lang währt.

halb viere. In Brunnen gefallen wie ich s ahndete. Meine Masque wird nicht gemacht. Lili kommt nicht auf den Bal. Aber dürft ich, könnt ich alles sagen! – Ich thats ​5 sie ​6 zu ​ehren weil ich deklarirt für sie bin, und eines Mädgens Herz pp – Also Gustgen! – Ich thats auch halb aus Truz, weil wir nicht sonderlich stehn die acht Tage her. Und nun! – Sieh Gustgen! so kanns allein werden wenn ich dir so von Moment zu Moment schreibe. – – halb 5. ich wollt ich könnt mich Dir ​7 Darstellen wie ich bin, du solltest doch dein Wunder sehn. Gott! so in dem ewigen Wechsel, immer eben derselbe.

dℓ. 16.ten. Heut Nacht necksten mich halb fatale Träume. Heut früh beym Erwachen klangen sie nach. doch wie ich die Sonne sah sprang ich mit beyden Füssen aus dem Bette, lief in der Stube auf und ab, bat mein Herz so freundlich freundlich, und mir wards leicht, und eine Zusicherung ward mir dass ich gerettet werden, dass noch was aus mir werden sollte: Gutes muths denn Gustgen ​8. Wir wollen einander nicht auf's ewige Leben vertrösten! Hier noch müssen wir glücklich seyn, hier noch muss ich Gustgen sehn. das einzige Mädgen deren Herz ganz in meinem busen schlägt. – Nach Mittage ​9 halb vier. Offen und gut der Morgen, ich that was, Lili eine kleine Freude zu machen, hatte Fremde. trieb mich nach Tische spasend närrisch unter Bekannten ​10 und Unbekannten herum. Gehe iezt nach Offenbach, um Lili heute Abend nicht in der Comödie morgen nicht im Conzert zu sehen. Ich stecke das Blat ein und schreibe draus fort.

Offenbach! Abends sieben. In einem Creise von Menschen die mich recht lieb haben, offt mit mir leiden! Es ist nun so! ich sizze wieder an dem Schreibtischgen von dem ich Ihnen schrieb ​11 eh ich in die Schweiz ging. Lieb Gustgen – da ist ein iunges Paar in der Stube das erst seit acht Tagen verheurathet ​12 ist! eine iunge Frau liegt auf dem Bette die der angenehmsten Hoffnung eines lieben Kindes entgegen schmerzet ​13. Ade für heute. Es ist Nacht und der Mayn blinckt noch aus den duncklen Ufern. /

Offenbach. Sonntag dℓ. 17 ten Nachts zehen. – Ist der Tag leidlich u. stumpf herumgegangen, da ich aufstund war mirs gut, ich machte eine Scene an meinem Faust. Vergängelte ein paar Stunden. Verliebelte ein paar mit einem Mädgen davon dir die Brüder erzählen mögen, das ein seltsames Geschöpf ist. Ass in einer Gesellschafft ein Duzzend guter Jungens, so grad wie sie Gott erschaffen hat. Fuhr auf dem Wasser selbst auf und nieder, ich hab die Grille selbst fahren zu lernen. Spielte ein Paar Stunden Pharao und vertraumte ein Paar mit guten Menschen. Und nun sizz ich dir gute Nacht zu sagen. Mir wars in all dem wie einer Ratte die Gift gefressen hat, sie lauft in alle Löcher, schlürpft alle Feuchtigkeit, verschlingt alles Essbaare das ihr in Weeg kommt und ihr innerstes glüht ​14 von unauslöschlich verderblichem Feuer. Heut vor acht Tagen war Lili hier. Und in dieser Stunde war ich in der grausamst feyerlichst süsesten Lage meines ganzen Lebens |:mögt ich sagen:| O Gustgen warum kann ich nichts davon sagen! Warum! Wie ich durch die glühendsten Trähnen der Liebe, Mond und Welt schaute und mich alles seelenvoll umgab. Und in der Ferne die Waldhorn, und der HochzeitGäste laute Freuden. Gustgen auch seit dem Wetter bin ich – nicht ruhig aber still —— was bey mir still heisst und fürchte nur wieder ein Gewitter das sich immer in den harmlosesten Tagen zusammenzieht, und —— Gute Nacht Engel. Einzigstes Einzigstes Mädgen – Und ich kenne ihrer Viele ——— ​15 ————

Montag dℓ. 18. Mein Schiffgen steht bereit, ich werds gleich hinunter lencken. Ein Herrlicher Morgen, der Nebel ist gefallen alles frisch und herrlich umher! – Und ich wieder in die Stadt! wieder ans Sieb der Danaiden! Ade! – Ich hab einen offnen frischen Morgen! O Gustgen! Wird mein Herz endlich einmal in ergreifendem wahren Genuss und Leiden, die Seeligkeit die Menschen gegönnt ward, empfinden, und nicht immer auf den Wogen der Einbildungskrafft und überspannten Sinnlichkeit, Himmel auf und Höllen ab getrieben werden. Beste ich bitte dich schreib mir auch so ein tagbuch. das ist das einzige was die ewige ferne bezwingt. —— —— —— —— —— ——— /


Montag Nacht halb zwölf. Franckf. an meinem tisch. komm noch dir gutr Nacht zu sagen. hab getrieben und geschwärmt biss iezt. Morgen gehts noch ärger. O Liebste. Was ist das Leben des Menschen. Und doch wieder die vielen Guten die sich zu mir sammeln! – das viele Liebe das mich umgiebt ————— ————— ———————

Lili heut nach Tisch gesehn – in der Comödie gesehn. hab kein Wort mit ihr zu reden gehabt —— auch nichts geredt! —— Wär ich das Los. O Gustgen. – und doch zittr'ich vor dem Augenblick da sie mir gleichgültig, ich hofnungslos werden könnte. – Aber ich bleib meinem herzen treu, und lass es gehn —— Es wird ——

Dienstag sieben: Morgens. – Im Schwarm! Gustgen! ich lasse mich treiben, und halte nur das Steuer, dass ich nicht strande. doch bin ich gestrandet ich kann von dem Mädgen nicht ab – heut früh regt sichs wieder zu ihrem Vortheil in meinem Herzen. – Eine grose schweere Lecktion! – Ich geh doch auf den Ball einem süsen Geschöpfe zu lieb, aber nur im leichten Domino, wenn ich noch einen kriege. Lili geht nicht. Nach tisch halb vier. Geht das immer so fort, zwischen kleinen Geschäfften durch immer Müssiggang getrieben, nach Dominos und Lappenwaare. Hab ich doch mancherley noch zu sagen. Adieu. ich bin ein Armer verirrter verlohrner – – Nachts Achte, aus der Commödie und nun die toilette zum Ball! O Gustgen wenn ich das Blat zurücksehe! Welch ein Leben. Soll ich fortfahren? oder mit diesem auf ewig endigen. Und doch Liebste, wenn ich wieder so fühle dass mitten in all dem Nichts, sich ​16 doch wieder so viel Häute von meinem Herzen lösen, so die convulsiven Spannungen meiner kleinen närrischen Composition nachlassen, mein Blick heitrer über Welt, mein Umgang mit den Menschen sichrer, fester, weiter wird, und doch mein innerstes immer ewig allein der heiligen Liebe gewiedmet bleibt, die nach und nach das Fremde ​17 durch den Geist der reinheit der sie selbst ist ausstöst und so endlich lauter werden wird wie gesponnen Gold18. – da lass ich's denn so gehn – Betrüge mich vielleicht selbst. – Und dancke Gott. Gute Nacht. Addio – Amen. 1775.

  1. I​Ahndung​ ↑
  2. danck|e|​ ↑
  3. ×​sie​ ↑
  4. ra|t|hen​ ↑
  5. T​thats​ ↑
  6. S​sie​ ↑
  7. ×​Dir​ ↑
  8. g​Gustgen​ ↑
  9. m​Mittage​ ↑
  10. b​Bekannten​ ↑
  11. S​schrieb​ ↑
  12. verheurt​athet​ ↑
  13. schmerzend​t​ ↑
  14. b​glüht​ ↑
  15. Viele,​—— ​(Komma überschrieben)​ ↑
  16. ⎡sich⎤​ ↑
  17. ⎡das Fremde⎤​ ↑
  18. God​ld​ ↑

H: FDH/FGM Frankfurt a. M., Sign.: 25748, ehemals Slg Brockhaus. – Doppelblatt 18,8 × 22,9 cm, 4 S. beschr., egh., Tinte, auffallend kleine Schrift, eng beschrieben, Schrift in den Briefteilen vom 16. bis 19. September (215,3–217,22) zunehmend flüchtiger werdend; Nummerierung auf S. 1 oben links: „8). a.“ nachträglich von fremder Hd (vgl. Überlieferung zu Nr 253).

E: Goethe-Stolberg​1 (1839), 102–109, Nr 8.

D: Goethe-Stolberg​2 (1881), 23–38, Nr 8.

WA IV 2 (1887), 288–295, Nr 355 (wahrscheinlich nach D; Textkorrekturen in den „Berichtigungen“, vgl. WA IV 50 [1912], 213).

Der Brief beantwortet einen nicht überlieferten Brief Augusta zu Stolbergs etwa von Anfang September 1775 (vgl. zu 213,11). – Ein Antwortbrief ist nicht bekannt.

Ihrem Bruder Christian schrieb Augusta zu Stolberg am 10. Oktober 1775 über den vorliegenden Brief Goethes: „〈…〉 ich habe eine Epistel von 7 quart Seiten von Goethe, klein und eng geschrieben an der er aber alle Tage oft 3 bis 4 mahl, jedesmahl aber nur 5 bis 6 Zeilen geschrieben hat. ein trefl[icher] Brief! Der arme Goethe! er klagt sehr viel, floh seine Lili, und hatte in 8 Tagen nicht mit Ihr gesprochen, obgl[eich] viel gesehen. aber welch feuer, daß muß ein abscheulicher Junge seyn – gegen ihn bin ich eine Schlafmütze – schreibe von dem Brief nichts hierher, ich habe ihn nicht gezeigt weil G[oethe] selbst es nicht haben wollte – 〈…〉.“ (Schumann, Auguste Stolberg, 282.)

wie hoch und klein 〈…〉 dencke] Anspielung auf das Äußere des vorliegenden Briefes, dessen Text unmittelbar am oberen Blattrand beginnt und auffallend klein geschrieben ist (vgl. Überlieferung). Offenbar hatte sich Augusta in ihrem nicht überlieferten Bezugsbrief beklagt, dass Goethe zu groß und damit zu wenig schreibe und die Seiten nicht ausfülle.

da liegt 〈…〉 Schlang im Grase] In Anlehnung an Vergil, Bucolica 3,93: „latet anguis in herba“.

Sie werden mich retten] Schon im Brief vom 19. bis 25. März hatte Goethe Augusta gebeten, ihn vor sich selbst zu retten (vgl. 179,11).

Beschreibung 〈…〉 was Sie umgiebt] Der nicht überlieferte Bezugsbrief enthielt wahrscheinlich eine Schilderung der Umgebung von Schloss Bernstorff in der Nähe Kopenhagens, wo sich die Adressatin seit dem 30. Juni 1775 bei der Familie ihrer Schwester Henriette aufhielt. Den Bernstorffschen Landsitz, eine barocke Schlossanlage mit Landschaftspark, Blumen- und Gemüsegärten, hatte Johann Hartwig Ernst von Bernstorff 1764/65 nach Plänen des französischen Baumeisters Nicolas Henri Jardin errichten lassen. Über das Leben auf Schloss Bernstorff berichtete Augusta am 16. September 1775 an Boie: „Ich lebe hier so vergnügt und wohl als man mit 2 Geliebten Schwestern, einen lieben Schwager und unter den Gewimmel 7 allerl: kleiner Kinderchens, und auf dem lande, leben kan, wo uns so selten als möglich Menschen Gesichter u. Importuns unsre Ländl: ruhe und Glükseeligkeit stören 〈…〉.“ (Briefe an Boie, 341.)

Schattenriss von Ihrer ganzen Figur] Auf Goethes mehrfachen Wunsch hatte ihm Augusta zu Stolberg offenbar Ende Februar/Anfang März 1775 ihre Porträtsilhouette übersandt, die allerdings nicht überliefert ist (vgl. zu 170,22).

Durchzog in trauriger Gestalt Deutschland] Anspielung auf Cervantes' Helden Don Quijote, der als ‚Ritter von der traurigen Gestalt‘ Spanien durchzog. Ob diese Bemerkung auf eine zeitgleiche Cervantes-Lektüre verweist, lässt sich nicht belegen. In der Bibliothek von Goethes Vater war Friedrich Justin Bertuchs Übersetzung „Leben und Thaten des weisen Junkers Don Quixote“ (6 Bde) vorhanden, 1775 in Weimar erschienen (vgl. Götting, 56).

Coppenhagen] Kopenhagen (vgl. zu 213,11).

wie die trompte 〈…〉 erkennen] Trompte: verkürzt für ‚Trompete‘, nach der älteren Betonung des Wortes auf der ersten Silbe (vgl. Grimm 11 I 2, 830). – Anspielung auf Tassos Epos „La Gerusalemme liberata“ (1575). Im 16. Gesang erblickt der Held Rinaldo, nachdem ihn Kriegstrompeten geweckt haben, im Diamantschild Ubaldos sein Spiegelbild, erkennt sein wahres Wesen und kann sich so von seinem Liebeswahn zur schönen Zauberin Armida befreien. Tassos Epos gehörte zur bevorzugten Lektüre des jungen Goethe (vgl. GB 1 I, 29,17–18); in der Bibliothek Johann Caspar Goethes waren sowohl eine italienische Ausgabe (Venedig 1705) wie auch die deutsche Übersetzung von Johann Friedrich Kopp „Gottfried, oder das Befreyte Jerusalem“ (Leipzig 1744) vorhanden (vgl. Götting, 56). Eine Adaption des Stoffes von Wilhelm Heinse war 1774/75 unter dem Titel „Armida, oder Auszug aus dem befreyten Jerusalem des Tasso“ in der „Iris“ erschienen (1. Bd. 3. Stück. Dezember 1774, S. 15–52; 2. Bd. 1. Stück. Januar 1775, S. 27–72 und 2. Stück. Februar 1775, S. 83–105).

zwey Fürstinnen] Wahrscheinlich sind die Herzogin Charlotte Amalia von Sachsen-Meiningen und die Markgräfin Sophie Caroline Maria von Brandenburg-Bayreuth gemeint, die sich nach Mitteilung des Frankfurter „Journals“ vom 22. September 1775 in der Stadt aufhielten: „Unter den vielen durchlauchtigen Herrschaften, welche sich allhier aufhalten, befinden sich der regierende Herzog von Sachsen-Weimar, die verwittwete Markgräfin von Baireuth, die verwittwete Herzogin von Sachsen-Meiningen nebst dero durchlauchtigen Prinzen.“ (Zitiert nach DjG​2 6, 505.) Die Prinzen von Meiningen erwähnt Goethe auch in seinem noch in Frankfurt am 20. September 1775 begonnenen Brief an Augusta zu Stolberg, der erst in Weimar am 22. November beendet und abgesandt wurde (vgl. WA IV 2, 305).

so ein tagbuch schreiben] Gemeint ist ein tagebuchartiger Brief, geschrieben über einen längeren Zeitraum von Moment zu Moment (214,32–33).

Maske] Hier: Kostüm, Verkleidung (vgl. zu 217,6); in diesem Sinn auch in der franz. Form Masque (214,23; 214,27) gebraucht.

diese Puppe] Hier: Spielzeug, etwas, das zur Ablenkung dient.

In Brunnen gefallen] Sprichwörtlich: ins Wasser gefallen; etwas hat sich zerschlagen.

weil ich deklarirt 〈…〉 bin] Von franz. déclarer: erklären. – Gemeint ist Goethes Verbindung zu Anna Elisabeth Schönemann durch die inoffizielle Verlobung in der Osterwoche 1775.

necksten] Necksen: mundartlich für ‚necken‘ (vgl. zu 24,3).

fatale Träume] Fatal: unangenehm, unerfreulich; von Goethe vorwiegend in der voritalienischen Zeit verwendet (vgl. GWb 3, 610).

hier noch 〈…〉 Gustgen sehn] Das von Goethe immer wieder in Aussicht gestellte Treffen mit Augusta kam nicht zustande (vgl. 201,16; zu 204,18–19 und die einleitende Erläuterung zu Nr 188).

Lili eine kleine Freude zu machen] Kurz zuvor hatte Goethe Johanna Fahlmer gebeten, auf der Frankfurter Messe ein Geschenk für Anna Elisabeth Schönemann zu besorgen (vgl. 213,1–3).

Fremde] Gemeint sein könnte u. a. Johann Jacob Pestalozzi, Kaufmann und Gelehrter aus Zürich, ein Freund Lavaters (vgl. 212,22–23).

nicht in der Comödie 〈…〉 im Conzert zu sehen] Da es in Frankfurt damals kein ständiges Theater gab, können nur Aufführungen von zeitweise während der Messe in der Stadt gastierenden Wanderbühnen und Orchestern gemeint sein (vgl. zu 24,5–6).

In einem Creise von Menschen] Goethe hielt sich wahrscheinlich bei den Familien André und d'Orville auf, seinen Offenbacher Freunden (vgl. die zweite Erläuterung zu 170,3).

Schreibtischgen] Vgl. 203,12–13.

in die Schweiz ging] Goethes Schweizer Reise vom 14. Mai bis 22. Juli 1775 (vgl. die zweite Erläuterung zu 191,1).

ein iunges Paar] Gemeint sind der Pfarrer Johann Ludwig Ewald aus Offenbach und dessen Ehefrau Rahel Gertrud, eine geborene du Fay aus Frankfurt. Sie hatten am 10. September 1775 geheiratet (vgl. Heinrich Düntzer: Frauenbilder. Stuttgart und Tübingen 1852, S. 333 f.). Aus Anlass ihrer Hochzeit hatte Goethe das „Bundeslied einem iungen Paar gesungen von Vieren“ geschrieben. Die „Vier“ waren offenbar Goethe, Anna Elisabeth Schönemann und das Ehepaar André. Das Gedicht erschien zuerst 1776 im „Teutschen Merkur“ (vgl. DjG​3 5, 266–268) und wurde später in stark veränderter Form als „Bundeslied“ (mit dem Incipit In allen guten Stunden 〈…〉) in die Gedichtsammlung für Frau von Stein aufgenommen (vgl. WA I 1, 117 f.). Im 17. Buch von „Dichtung und Wahrheit“, in dem auch des Pfarrers Ewald gedacht wird, nahm Goethe die erste Strophe in der späteren Fassung auf, war aber der Annahme, er habe das Gedicht anlässlich von Ewalds Geburtstag geschrieben (vgl. AA DuW 1, 575 f.).

iunge Frau] Katharina Elisabeth André geb. Schmaltz, die Ehefrau von Goethes Freund Johann André, brachte am 6. Oktober 1775 als ihr fünftes Kind ihren Sohn Johann Anton zur Welt (vgl. Pirazzi, 182).

eine Scene an meinem Faust] Dies ist die erste direkte Erwähnung des „Faust“, an dessen früher Fassung Goethe spätestens seit dem Sommer 1773, möglicherweise auch schon früher arbeitete (vgl. GB 1 II, zu 240,25–241,5). Wegen der folgenden sprachlichen Parallele zum ‚Rattenlied‘ wurde der Hinweis meist mit ​Auerbachs Keller (DjG​3 5, 287–298) in Verbindung gebracht (vgl. zu 216,1–4).

Vergängelte] Vergängeln: vergehen machen, tändelnd die Zeit vertreiben; wahrscheinlich Wortbildung Goethes (vgl. Grimm 12 I, 374).

einem Mädgen 〈…〉 Brüder erzählen mögen] Die Identität des hier zum ersten Mal erwähnten ‚Offenbacher Mädchens‘, wie es in der älteren biographischen Goethe-Forschung genannt wird, ist bis heute nicht eindeutig geklärt (vgl. Goethe-Handbuch​1 3, 57–59). Mehrere Quellen verweisen darauf, dass ihr Nachname Nagel gewesen sei. Der Familienname wie auch die Bekanntschaft des Mädchens mit einem der Brüder Stolberg und mit weiteren Freunden Goethes wird durch einen Brief des Frankfurter Arztes Johann Christian Ehrmann vom 12. Dezember 1812 an Goethe belegt: „Zürnen Sie ja nicht mit mir, wenn ich Sie im jetzigen Ehestande an ein schoenes Madchen von Offenbach nahmens Nagel errinnere – an welchem Sie, Klinger, Haugwitz, Stollberg, Jacobi, Willemer – und Ich im Vielkampf berühmt wurden – On est jeun & vieux a Cout age 〈man ist jung und alt in jedem Alter〉, sagte Chaulieu, und da ich diese Warheit gerne mit Ihnen gelten lassen moechte, so kann es uns an unserm moralischen Caracter nicht schaden, wenn wir zuweilen das seltne Glück wie Orpheus geniesen mit einem Blick in die Unterwelt – (den Hades) zu schielen.“ (H: GSA 28/290 St. 1; vgl. RA 6, 210, Nr 577.) Weniger glaubhaft erscheint ein Bericht, den Max Rieger, ein Großneffe Friedrich Maximilian Klingers, nach einer Erinnerung seiner Mutter, der Tochter von Klingers jüngster Schwester Agnes, mitteilt. Diese habe angeblich ihren Bruder im Schlaf belauscht, um die Adresse des „schönen Mädchens in Offenbach“ zu erfahren, die „von Klinger und seinen Freunden, darunter den Grafen Stolberg“ besucht wurde: „Die mutwillige, noch nicht ach〈t〉zehnjärige Schwester gieng darauf unter dem Schutze zweier Freunde der Familie 〈…〉 selbst insgeheim nach Offenbach, um das Mädchen kennen zu lernen; sie fand es in einer ärmlichen kellerartigen Wonung, die mit den Schattenrissen seiner genialischen Freunde geschmückt war. Die Erzä〈h〉lerin meinte, es habe entweder Nagel geheißen oder sei eines Nagelschmieds Tochter gewesen.“ (Max Rieger: Klinger in der Sturm- und Drangperiode. Darmstadt 1880, S. 73 f.) – Im Frankfurter Goethe-Museum ist die Silhouette einer „M〈ademoiselle〉 Nagel; Offenbach“ überliefert (FDH/FGM, Graphik-Depot, Silhouettensammlung, Inv. Nr III-10813). Ein zweites Exemplar hat sich im Nachlass des Darmstädter Staatsrats und Museumsdirektors Ernst Schleiermacher erhalten, der in Gießen ein enger Studienfreund Klingers war; in der oberen linken Ecke steht mit Bleistift der Name „Klinger“ und unter dem Porträt „Fr. Nagel in Offenbach“ (Privatbesitz). Tatsächlich ist in Offenbach für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts die Familie eines Kaufmanns Johann Nagel nachweisbar. Dem Eintrag ins Taufregister der Evangelisch-Reformierten Kirche Offenbach zufolge wurde am 11. November 1756 eine Tochter des Johann Nagel und seiner Frau Anna Maria geb. Leonhard auf die Namen Justine Elisabeth getauft. Als Geburtsdatum der Tochter wird „Sont. dℓ 7 Nov.“ angegeben. Von ihrem Alter her könnte sie das ‚Offenbacher Mädchen‘ sein. Allerdings wäre dann ihre soziale Herkunft weitaus weniger bescheiden, als Riegers Bericht nahelegt. – Der in der Sekundärliteratur angegebene Vorname Charlotte lässt sich quellenmäßig nicht belegen. Er geht offenbar auf Morris' Vermutung zurück, das Gedicht „Brief an Lottchen“ sei mit Bezug zu dem Offenbacher Mädchen geschrieben (vgl. DjG​2 6, 481 f.). Nach Fischer-Lamberg war Anna Catharina Charlotte Jacobi die Adressatin des Gedichts (vgl. DjG​3 4, 338 f.). Jedoch lassen sich beide Zuschreibungen nicht verifizieren, ebenso wenig wie die genaue Entstehungszeit des Gedichts zu bestimmen ist. – In seinem Reisetagebuch aus Eberstadt vom 30. Oktober 1775 nimmt Goethe in Gedanken Abschied von einer namentlich nicht erwähnten Freundin, mit der ebenfalls die Offenbacherin, möglicherweise also Justine Elisabeth Nagel, gemeint sein könnte (vgl. GT I 1, 13).

guter Jungens] Gemeint sein könnte u. a. der Mediziner Johann Christian Ehrmann, der seinen eigenen Angaben zufolge 1775 zu Goethes Bekanntenkreis gehörte (vgl. die vorhergehende Erläuterung).

Pharao] Auch: Faro. – Im 18. Jahrhundert ein beliebtes Glücksspiel, gespielt mit französischen Spielkarten, benannt nach der Königskarte; vgl. „Die Mitschuldigen“, 1. Fassung, 7. Auftritt, Vers 248 (DjG​3 1, 326; vgl. auch 2. Fassung, III 1, 595; DjG​3 1, 392).

mit guten Menschen] Vgl. zu 215,17.

wie einer Ratte 〈…〉 Feuer] Vgl. dazu das Rattenlied in der Szene ​Auerbachs Keller in Leipzig in der frühen „Faust“-Fassung (sowie „Faust I“, Verse 2126–2149):

Es war ein Ratt im Keller Nest, Lebt nur von Fett und Butter, Hätt sich ein Ränzlein angemäst Als wie der – – – – Die Köchin hätt ihr Gift gestellt Da wards so eng ihr in der Welt, Als hett sie Lieb im Leibe! Als hett sie Lieb im Leibe.
Sie fuhr herum sie fuhr heraus Und soff aus allen Pfüzzen, Zernagt zerkrazt das ganze Haus, Wollt nichts ihr Wüten nützen. Sie thät so manchen Aengstesprung Bald hätt das arme Tier genung, Als hett es Lieb im Leibe. Als hett es Lieb im Leibe.
Sie kam vor Angst am hellen Tag Der Küche zu gelaufen, Fiel an den Heerd und zuckt und lag Und thät erbärmlich schnauffen. Da lachte die Vergifftrinn noch: Ha sie pfeift auf dem lezten Loch Als hett sie Lieb im Leibe. Als hett sie Lieb im Leibe.

(DjG​3 5, 289.) – Die sprachlichen Parallelen der vorliegenden Textstelle zum ‚Rattenlied‘ gaben in der Forschung Anlass zur Vermutung, das Lied sei unmittelbar „unter dem Einfluß der brieflichen Mitteilung“ geschrieben worden und Goethe könnte dabei die „Umrahmung des Einschubs“ und vielleicht auch sonst noch Teile der Szene Auerbachs Keller gestaltet haben (vgl. Helgard Reich: Die Entstehung der ersten fünf Szenen des Goetheschen ‚Urfaust‘. München 1968, S. 101). Allerdings gibt es weder für die Entstehung des ‚Rattenliedes‘ in unmittelbarer zeitlicher Nähe zum vorliegenden Brief noch für eine Arbeit an der das Lied umgebenden Szene schlüssige Belege (vgl. Valters Nollendorfs: Der Streit um den Urfaust. [Studies in German literature 4]. The Hague u. a. 1967, S. 235 f.).

vor acht Tagen] Zur Hochzeit des Pfarrers Ewald am 10. September (vgl. zu 215,20 und Datierung zu Nr 262).

die Waldhorn] Wahrscheinlich eine verkürzte Pluralform, sonst nicht noch einmal bei Goethe belegt; nach Fischer-Lamberg ein Femininum (vgl. DjG​3 5, 457, Nr 385, zu 259,6).

Mein Schiffgen 〈…〉 lencken.] Dem Kontext zufolge hier wörtlich zu verstehen (vgl. 215,30–31) – Vgl. aber zu 15,15–16.

hinunter] Mainabwärts nach Frankfurt.

Sieb der Danaiden] Die Danaiden, in der griechischen Sage die Töchter des Danaos, waren verurteilt, in der Unterwelt Wasser mit Sieben in ein durchlöchertes Fass zu schöpfen.

gutr] Verschrieben für ‚gute‘.

regt sichs 〈…〉 in meinem Herzen] Ähnlich lautet eine Stelle in der Gartenszene der frühen „Faust“-Fassung: Ich wuste nicht was sich / Zu euerm Vortheil hier zu regen gleich begonnte. (DjG​3 5, 324, Verse 1024 f.)

süsen Geschöpfe] Nicht ermittelt. – Möglicherweise ist das im Briefteil vom 17. September erwähnte Mädgen aus Offenbach (Justine Elisabeth? Nagel) gemeint, wie auch Morris und Fischer-Lamberg vermuten (vgl. DjG​2 6, 502, zu 374; DjG​3 5, 457, Nr 385, zu 259,34).

im leichten Domino] Maskenmantel aus Seide mit weiten Ärmeln und Kapuze; unter dem 19. September 1775 verzeichnet das von Philipp Seidel geführte „Ausgabebüchlein“: eine weise venetianische Maske – 24 〈Xr〉 / ein paar weise Händschuh – 24 〈Xr〉 (AB, 16).

den Geist der reinheit 〈…〉 Gold] Wohl noch in Anlehnung an die Sprache des Pietismus und zugleich ein Hinweis auf Goethes hermetisch-alchemistische Studien (vgl. GB 1 II, zu 130,15–16; zu 130,25).

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 263 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR263_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 213–217, Nr 263 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 538–544, Nr 263 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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