Goethes Briefe: GB 2, Nr. 6
An Sophie La Roche

Frankfurt a. M. , 〈19. Januar〉 1773. 〈Dienstag〉 → 〈Ehrenbreitstein bei Koblenz〉

Viel tausend Danck für das liebe Paket. Es hat mich so ganz in die glücklichen hellen Tage versetzt, zu Ihnen und Ihren liebsten, hat mir alle unsre Unterredungen wieder lebendig gemacht. Aber auch beschämt war ich von der Püncklichkeit. Pygmalion ist eine treffliche Arbeit; so viel Wahrheit und Gute des Gefühls, soviel Treuherzigkeit im Ausdruck. Ich darfs doch noch behalten, es muss allen vorgelesen werden deren Empfindung ich ehre. Ihr schwäbischer Merck ist ein Biedermann. Unsern Darmstädter hab ich seit Ihrem Briefe nicht gesehen. Er ist munter, arbeitet allerley, und hat ietzo Leyseringen.

Vielleicht ist der Termin Ihres Stillschweigens vorbey und Sie wissen das alles und mehr. Von Jerusalems Todte schrieb ich nur das pragmatische Resultat meiner Reflecktionen, das war freylich nicht viel. Ich hoffte ​1 auf eine umständliche avtentische Nachricht, die ich nun überschicken kann. Sie hat mich so offt innig gerührt als ich sie las, und das gewissenhaffte Detail der Erzählung ​2 nimmt ganz hin. Ihr Märgenserzähler ist ein lieber Junge den Gott erhalte, ich wünsche dass sein Herz immer viel gute Sachen zu erzählen haben möge, gut wird er sie uns immer erzählen. Der Herzog v. W. bleibt in der Art seines Aufwandes sich immer gleich. Viel Glück dem iungen Helden! ​3 wir üben unsre Phantasie wie ihm die Uniform stehn möge. Und ich / hoffe mein Andencken ist noch nicht aus Ihren Wohnungen gewichen. Meine Einbildungskrafft verlässt den Augenblick nie, da ich von Ihnen und Ihrer vollkommnen Tochter mich trennen musste ​4, und mit Abschiedvollem Herzen die letzte Hand küsste und sagte vergessen Sie mich nicht. Meine Schwester wünscht und hofft Sie zu kennen, wir leben glücklich zusammen, ihr Karackter hat sich wunderbaar schnell gebildet wie wünscht ich dass sie näher Ihnen wäre, Sie würden für eine Tagreise Ihres Lebens gewiss eine liebe Gefährtin haben. Leben Sie wohl und wenn Sie das Wasser vor Ihren Fenstern vorbeyfliessen sehn, so erinnern Sie sich unsrer, wir sehn es niemals hinabfliessen ohne es zu seegnen und uns mit zu wünschen.

Goethe.


Könnten Sie nicht Wielanden wohmeynend rathen, den deutschen Merkur monatlich herauszugeben. Dergleichen Schrifften machen keinen Appetit Bände weis.

  1. ×​hoffte​ ↑
  2. Erg​zählung​ ↑
  3. Helden,​!​ ↑
  4. mü​usste​ ↑

Tag und Monat sind durch Beschneidung der Handschrift verloren (vgl. Überlieferung). Sie wurden nach h​a (vgl. Überlieferung zu Nr 47) ergänzt.

H: GSA Weimar, Sign.: 29/294,I, Bl. 3–4. – Doppelblatt 19,3 × 23,5 cm, 1 ⅔ S. beschr., egh., Tinte, sorgfältig geschrieben; obere rechte Ecke beider Blätter abgeschnitten, Textverlust (vgl. 5,1).

E: Assing (1859), 369–371, Nr 3 (unter dem falschen Datum des 19. Januar 1775).

WA IV 2 (1887), 57 f., Nr 122 (Textkorrekturen in den „Berichtigungen“, vgl. WA IV 50 [1912], 206).

Abschrift von Kestners Bericht über den Tod von Carl Wilhelm Jerusalem (vgl. GB 1 II, zu 246,4–5).

Der Brief bezieht sich auf die Übersendung eines Pakets (vgl. 5,3); ein Begleitbrief Sophie La Roches ist nicht bekannt. – Ein Antwortbrief ist nicht bekannt.

Über das Verhältnis Goethes zu Marie Sophie La Roche geb. Gutermann Edle von Gutershofen vgl. die einleitende Erläuterung zum Brief aus der Zeit zwischen 16. und 28. November 1772 (GB 1 II, Nr 117).

Franckfurt am 〈  〉] Textverlust durch Beschädigung.

Paket] Was es außer Rousseaus „Pygmalion“ (vgl. 5,6) enthielt, ist nicht ermittelt worden, auch nicht, ob mit ihm eine Bitte Goethes erfüllt wurde, worauf die Bemerkung über die Püncklichkeit (5,6) der Sendung hindeuten könnte.

die glücklichen hellen Tage] Goethe hatte sich vom 14. bis zum 19. September 1772 bei Sophie La Roche und deren Familie aufgehalten.

Pygmalion] Pygmalion, par M. J. J. Rousseau. Scène lyrique. In: Mercure de France. Januar 1771, S. 200–209. – Vgl. Goethes Behandlung des Stoffes in seinem frühen Gedicht „Pygmalion, eine Romanze“ (DjG​3 1, 183 f.).

schwäbischer Merck] Johann Merck, Prediger in Ravensburg, „der beste, rechtschaffenste Mann“ (Sophie La Roche an Johann Caspar Hirzel, 16. Juli 1770; Maurer, 111). Noch in einem Brief von März 1779 an denselben heißt es: „Der Mann ist einer der schätzbarsten, die ich kenne.“ (Maurer, 210.)

Biedermann] Im 18. Jahrhundert wurde das Adjektiv ,bieder‘ (noch ohne pejorativen Nebensinn) in der Bedeutung ‚brauchbar‘, ‚nützlich‘, ‚tüchtig‘, ‚rechtschaffen‘ gebraucht.

Unsern Darmstädter] Johann Heinrich Merck. Sophie La Roche hatte ihn ihrem ‚schwäbischen Merck‘ brieflich vorgestellt, der daraufhin am 26. September 1771 schrieb: „Von dem Hℓ. KriegsCassier Merk weiß ich nichts. Gott segne den wakeren Mann. Ich freue mich, daß ich seinen Namen trage.“ (H: GSA 56/49.)

seit Ihrem Briefe] Gemeint ist wohl Sophie La Roches nicht überlieferter Brief, den Goethe im November 1772 in Darmstadt erhalten hatte (vgl. GB 1 I, 244,15).

arbeitet allerley] Vgl. die erste Erläuterung zu 28,9.

Leyseringen] Gemeint ist Franz Michael Leuchsenring (Leysering), Hofrat und Erzieher des hessen-darmstädtischen Erbprinzen Ludwig. Goethe hatte ihn im März 1772 in Darmstadt kennen gelernt.

das pragmatische Resultat meiner Reflecktionen] Goethe hatte offenbar in einem nicht überlieferten Brief von Anfang November 1772 vom Freitod Carl Wilhelm Jerusalems am 30. Oktober berichtet; vgl. GB 1 II, einleitende Erläuterung zu Nr 117.

avtentische Nachricht] Goethe ließ den Bericht Johann Christian Kestners über Jerusalems Tod (abgedruckt in GB 1 II, zu 246,4–5), den er Ende November 1772 erhalten hatte (vgl. GB 1 I, 246,4), abschreiben und schickte die Abschrift offenbar mit vorliegendem Brief an Sophie La Roche. – Am Tag, an dem wahrscheinlich auch der vorliegende Brief geschrieben wurde, schickte er Kestners Bericht an diesen zurück (vgl. Nr 5).

Ihr Märgenserzähler] Dass damit Wieland gemeint sei, dessen Roman „Der Goldne Spiegel, oder die Könige von Scheschian, eine wahre Geschichte“ 1772 erschienen war, wie in Goethe-La Roche, 11 und DjG​2 6, 256, zu Nr 126 vermutet wird, ist wenig wahrscheinlich, da Goethe Wieland, der in der Nachschrift im Übrigen auch namentlich genannt wird, Sophie La Roche gegenüber wohl nicht lieber Junge (5,18) genannt hätte. In DjG​3 3, 414 wird, ohne Angabe von Gründen, Wilhelm Heinse genannt.

Herzog v. W.] Carl Eugen von Württemberg, seit 1737 Herzog.

Art seines Aufwandes] Carl Eugen war für verschwenderischen Aufwand in verschiedener Hinsicht bekannt: für maßlose Bautätigkeit, für luxuriöse Hoffeste, für glanzvolles Opern- und Theaterwesen. Das Militär betrachtete er dabei als Finanzierungsquelle. Er betrieb ein einträgliches Geschäft mit Subsidientruppen, vor allem mit Frankreich und Holland.

dem iungen Helden] Friedrich (Fritz) La Roche, 15-jähriger Sohn Sophie La Roches, Sorgenkind der Familie. Schon am 18. Oktober 1769 hatte der mit Sophie La Roche befreundete Diakon Johann Jakob Brechter beruhigend geschrieben: „Gott sey gelobet daß Friz mehr Verstand als Gelehrsamkeit und mehr ein gutes als abgerichtetes Herz hat. Er ist gerade so, als ich mir ihn in seinem Alter wünschen würde wenn er mein Sohn wäre.“ (H: GSA 56/14.) Wieland, der in Erfurt ohne Erfolg sein Erzieher gewesen war (vgl. seinen Brief an Sophie La Roche vom 15. September 1769; Maurer, 92 f.), hatte ihn 1771 wieder nach Hause entlassen. Der Vater bestimmte daraufhin den Sohn für eine Offizierslaufbahn. Friedrich besuchte (nach den Akten im Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Sign.: A 272 Bü 269 Nr 513) von 1773 bis 1779 die Militärakademie in Stuttgart und trat danach in württembergische und französische Dienste. 1780 ging er mit dem französischen General La Fayette nach Amerika und nahm auf Seiten der Amerikaner am Unabhängigkeitskampf gegen England teil.

Tochter] Maximiliane La Roche.

Meine Schwester wünscht und hofft Sie zu kennen] Cornelia Goethe lernte Sophie La Roche kennen, als diese Ende Juli/Anfang August 1773 in Frankfurt zu Besuch war. Am 12. August schrieb sie Frau La Roche einen Brief, in dem sie diese „meine theure Mutter“ nennt (vgl. Georg Witkowski: Cornelia Goethe an Sophie von La Roche. In: GJb XXVIII [1907], 4).

wohmeynend] Schreibversehen für ‚wohlmeynend‘.

den deutschen Merkur monatlich herauszugeben] In den FGA vom 11. Januar 1773 (Nr 4) erschien eine von Wieland verfasste „Nachricht an das Publikum“ (S. 28–32) vom 12. Dezember 1772, in welcher es heißt: „Der deutsche Merkur wird mit dem bevorstehenden Jahr 1773 seinen Anfang nehmen, und es folgen davon alle Vierteljahr drey Stücke oder ein Bändchen 〈…〉, mithin jährlich vier solche Theile“ (S. 30). Der „Teutsche Merkur“ erschien erst ab 1775 nicht mehr quartalsweise in Bänden, sondern monatlich in Einzelheften.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 6 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR006_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 5–6, Nr 6 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 9–12, Nr 6 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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