BuG:BuG I, A 418
Zürich 9./14. 6. 1775

Dichtung und Wahrheit XVIII (WA I 29, 107)

Zürich 9./14. 6. 1775

Der alte Bodmer ward hiebei vorzüglich beachtet, und wir mußten uns auf den Weg machen ihn zu besuchen und jugendlich zu verehren. Er wohnte in einer Höhe über der am rechten Ufer, wo der See seine Wasser als Limmat zusammendrängt, gelegenen größern oder alten Stadt; diese durchkreuzten wir, und erstiegen zuletzt auf immer steileren Pfaden die Höhe hinter den Wällen ... Hier nun stand Bodmers Haus, der Aufenthalt seines ganzen Lebens, in der freisten, heitersten Umgebung, die wir, bei der Schönheit und Klarheit des Tages, schon vor dem Eintritt höchst vergnüglich zu überschauen hatten.

Wir wurden eine Stiege hoch in ein ringsgetäfeltes Zimmer geführt, wo uns ein muntrer Greis von mittlerer Statur entgegenkam. Er empfing uns mit einem Gruße, mit dem er die besuchenden Jüngern anzusprechen pflegte: wir würden es ihm als eine Artigkeit anrechnen, daß er mit seinem Abscheiden aus dieser Zeitlichkeit so lange gezögert habe, um uns noch freundlich aufzunehmen, uns kennen zu lernen, sich an unsern Talenten zu erfreuen und Glück auf unsern fernern Lebensgang zu wünschen.

Wir dagegen priesen ihn glücklich, daß er als Dichter, der patriarchalischen Welt angehörig und doch in der Nähe der höchst gebildeten Stadt, eine wahrhaft idyllische Wohnung Zeitlebens besessen und in hoher freier Luft sich einer solchen Fernsicht mit stetem Wohlbehagen der Augen so lange Jahre erfreut habe.

Es schien ihm nicht unangenehm, daß wir eine Übersicht aus seinem Fenster zu nehmen uns ausbaten, welche denn wirklich bei heiterem Sonnenschein in der besten Jahreszeit ganz unvergleichlich erschien. Man übersah vieles von dem was sich von der großen Stadt nach der Tiefe senkte, die kleinere Stadt über der Limmat, so wie die Fruchtbarkeit des Sihl-Feldes gegen Abend. Rückwärts links, einen Theil des Zürichsees mit seiner glänzend bewegten Fläche und seiner unendlichen Mannichfaltigkeit von abwechselnden Berg- und Thal-Ufern, Erhöhungen, dem Auge unfaßlichen Mannichfaltigkeiten; worauf man denn, geblendet von allem diesem, in der Ferne die blaue Reihe der höheren Gebirgsrücken, deren Gipfel zu benamsen man sich getraute, mit größter Sehnsucht zu schauen hatte.

Die Entzückung junger Männer über das Außerordentliche was ihm so viele Jahre her täglich geworden war, schien ihm zu behagen; er ward, wenn man so sagen darf, ironisch theilnehmend und wir schieden als die besten Freunde, wenn schon in unsern Geistern die Sehnsucht nach jenen blauen Gebirgshöhen die Überhand gewonnen hatte.

J. J. Bodmer an Schinz 15. 6. 1775 (GJb 5, 192)

B2 101

Zürich 9./14. 6. 1775

Hr. Lav[ater] hat Göthen und die Grafen von Stolberg zu mir gebracht. Ich habe auch Göthen bei Lav[ater] einen Besuch gemacht. Die Grafen haben ein Landhaus in der Enge gemiethet. Hr. Lav[ater] hat Göthen eine vortheilhafte opinion von mir gemacht, die ich noch nicht verdorben habe. Er ist mit meiner Munterkeit am besten zufrieden. Er hat Brutus und Cassius für niederträchtig erklärt, weil sie den Cäsar ex insidiis, von hinten, um das Leben gebracht haben. Ich sagte, dass Cäsar sein Leben durch nichts anderes gethan, als die Republik, seine Mutter, getödtet, und die meiste Zeit durch falsche Wege. Cicero ist nach ihm ein blöder Mann, weil er nicht Cato war. Es ist sonderbar, dass ein Deutscher, der die Unterthänigkeit mit der äussersten Unempfindlichkeit erduldet, solche Ideale von Unerschrockenheit hat. Ist nicht Wehrter der blödeste, feigherzig[st]e Mann? Aber es scheint, der Verf. halte die Feigheit, welche den Schmerzen der Liebe durch den Tod entflieht, für Stärke der Seele. Man sagt, Göthe wolle bey uns an einem Trauerspiel von Dr. Faustus arbeiten. Eine Farçe lässt sich von einem Schwindelkopf leicht daraus machen.

J. J. Bodmer an H. Meister 15. 6. 1775 (GJb 5, 193)

B2 100

Zürich 9./14. 6. 1775

Göthen ist ein Mann von wenig Worten. Er ist mit meiner Munterkeit recht wol zufrieden. Er hat mir die Freude machen wollen, dass ich ihn vor meinem Ende sähe, und es ward ihm, da er schon in Eschers Hause war, noch bange, dass er zu spät gekommen wäre, sich von dem alten Manne sehen zu lassen. Ich machte ihm das Compliment, dass er mich 77. Jahre auf sich habe warten lassen ...

Es ist mir ein Räthsel, wie Göthen und Lavater zusammendenken; da sie gerne auf dem Zürcher See fahren, möchte sie wol ein Sturmwind nach Küssnacht jagen.

J. J. Bodmer an Schinz 19. 6. 1775 (GJb 5, 194)

Zürich 9./14. 6. 1775

Göthe ist auf den Gotthardberg gegangen, er hatte Gedanken, weiter bis Mailand – zu gehen.

Lavater an J. G. Zimmermann 14. 6. 1775 (Im neuen Reich 1878, 2 S. 606)

Zürich 9./14. 6. 1775

Izt ist Goethe in meinem Hause und die Grafen Stollberg leben bey uns.

J. J. Bodmer an J. G. Sulzer 2. 8. 1775 (GJb 4, 316)

Zürich 9./14. 6. 1775 und 26./29. 6. 1775

Die Grafen von Stollberg, von Haugwiz, der von Lindau, Göthen sind zu uns gekommen; sie mögen den Deutschen sagen, sie haben einen depontanum besuchen wollen und seyen zu einem lebenden Mann gekommen. Der jüngere Stollberg hat hier einen Freiheitsgesang aus dem 20sten Jahrhundert gedichtet, den er mir dedicirte. Er sagt dass nach 200 Jahren Deutschland ein freyes Volk haben werde ... Herder und Klopstock sind in den Augen dieser Herrn Führer des Geschmakes, Wieland nur ein Nachtreter. Göthen war bey Lavater logirt, soll ich sagen sein Waffenträger, oder sein Held. Ich fürchte Sie mein Freund halten mich für einen Schmeichler, wenn Sie hören, dass ich ihre Gunst besize; ich war doch nur fröhlich und polit mit ihnen. Breitinger, Steinbrüchel, Hottinger werden von ihnen gefürchtet oder gehasset. Sie mochten von mir gehört haben, ich wäre ein Wassertrinker und darum ein Freudenhasser. Ich gefiel ihnen da ich lachen konnte ... Zimmermann ist Lavaters und Göthens Mann; dieses Wort verstanden wir in der Feudalverfassung.

J. J. Bodmer an H. Meister 3. 8. 1775 (GJb 5, 197)

Zürich 9./14. 6. 1775 und 26./29. 6. 1775

Doctor Göthen, ist 8 Tage bey Hr. Lav[ater] gewesen. Ich hab ihm nicht geschmeichelt, aber ihn auch nicht beleidiget, und damit gewonnen, dass er etwas aus mir machet. Man erzählt, Hr. Lav[ater] urtheile von ihm, er sey der wärmste Freund und der gefährlichste Feind der Religion und der Tugend. Ich verstehe diesen Ausspruch nicht, und wenn es nicht fustian ist, so bin ich ein wenig dumm. Göthen sagte, seine Leiden Wehrters seyen Historie und Natur, der Historiker habe nicht nöthig, die Personen gerecht zu schildern. In der That aber ist es nur Erdichtung, er ist der ποιητης, der Schöpfer dieser Leiden.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG I, BuG01_A_0418 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG01_A_0418.

Entspricht Druck:
BuG I, S. 341 (Ernst Grumach/Renate Grumach).

Zurück zum Seitenanfang