BuG:BuG I, A 405
Mannheim 15. 5. 1775

Dichtung und Wahrheit XVIII (WA I 29, 94)

Mannheim 15. 5. 1775

Schon auf dem Wege nach Mannheim zeigte sich, ungeachtet aller guten und edlen gemeinsamen Gefühle, doch schon eine gewisse Differenz in Gesinnung und Betragen. Leopold Stolberg äußerte mit Leidenschaft: wie er genöthigt worden ein herzliches Liebesverhältniß mit einer schönen Engländerin aufzugeben, und deßwegen eine so weite Reise unternommen habe. Wenn man ihm nun dagegen theilnehmend entdeckte, daß man solchen Empfindungen auch nicht fremd sei, so brach bei ihm das gränzenlose Gefühl der Jugend heraus: seiner Leidenschaft, seinen Schmerzen, so wie der Schönheit und Liebenswürdigkeit seiner Geliebten dürfe sich in der Welt nichts gleich stellen. Wollte man solche Behauptung, wie es sich unter guten Gesellen wohl ziemt, durch mäßige Rede in’s Gleichgewicht bringen, so schien sich die Sache nur zu verschlimmern, und Graf Haugwitz wie auch ich mußten zuletzt geneigt werden, dieses Thema fallen zu lassen. Angelangt in Mannheim bezogen wir schöne Zimmer eines anständigen Gasthofes, und bei’m Dessert des ersten Mittagsessens, wo der Wein nicht war geschont worden, forderte uns Leopold auf, seiner Schönen Gesundheit zu trinken, welches denn unter ziemlichem Getöse geschah. Nach geleerten Gläsern rief er aus: Nun aber ist aus solchen geheiligten Bechern kein Trunk mehr erlaubt; eine zweite Gesundheit wäre Entweihung, deßhalb vernichten wir diese Gefäße! und warf sogleich sein Stengelglas hinter sich wider die Wand. Wir andern folgten, und ich bildete mir denn doch ein, als wenn mich Merck am Kragen zupfte.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG I, BuG01_A_0405 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG01_A_0405.

Entspricht Druck:
BuG I, S. 334 f. (Ernst Grumach/Renate Grumach).

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