BuG:BuG I, A 402
Frankfurt 8./14. 5. 1775

F. L. Graf zu Stolberg an H. W. v. Gerstenberg 18. 10. 1775 (GJb 10, 143)

Frankfurt 8./14. 5. 1775

In Frankfurt fanden wir unsern Haugwiz; Göthe ward so sehr unser Freund dass er sich entschloss mit uns nach Zürch zu reisen.

Dichtung und Wahrheit XVIII (WA I 29, 88)

Frankfurt 8./14. 5. 1775

Um diese Zeit meldeten sich die Grafen Stolberg an, die, auf einer Schweizerreise begriffen, bei uns einsprechen wollten ...

Die Gebrüder kamen an, Graf Haugwitz mit ihnen. Von mir wurden sie mit offener Brust empfangen, mit gemüthlicher Schicklichkeit. Sie wohnten im Gasthofe, waren zu Tische jedoch meistens bei uns. Das erste heitere Zusammensein zeigte sich höchst erfreulich; allein gar bald traten excentrische Äußerungen hervor.

Zu meiner Mutter machte sich ein eigenes Verhältniß. Sie wußte in ihrer tüchtigen graden Art sich gleich in’s Mittelalter zurückzusetzen, um als Aja bei irgend einer lombardischen oder byzantinischen Prinzessin angestellt zu sein. Nicht anders als Frau Aja ward sie genannt, und sie gefiel sich in dem Scherze und ging so eher in die Phantastereien der Jugend mit ein, als sie schon in Götz von Berlichingens Hausfrau ihr Ebenbild zu erblicken glaubte.

Doch hiebei sollte es nicht lange bleiben; denn man hatte nur einige Male zusammen getafelt, als schon nach ein und der andern genossenen Flasche Wein der poetische Tyrannenhaß zum Vorschein kam, und man nach dem Blute solcher Wüthriche lechzend sich erwies. Mein Vater schüttelte lächelnd den Kopf; meine Mutter hatte in ihrem Leben kaum von Tyrannen gehört, doch erinnerte sie sich in Gottfrieds Chronik dergleichen Unmenschen in Kupfer abgebildet gesehen zu haben: den König Kambyses, der in Gegenwart des Vaters das Herz des Söhnchens mit dem Pfeil getroffen zu haben triumphirt, wie ihr solches noch im Gedächtniß geblieben war. Diese und ähnliche aber immer heftiger werdende Äußerungen in’s Heitere zu wenden, verfügte sie sich in ihren Keller, wo ihr von den ältesten Weinen wohlunterhaltene große Fässer verwahrt lagen. Nicht geringere befanden sich daselbst, als die Jahrgänge 1706, 19, 26, 48 von ihr selbst gewartet und gepflegt, selten und nur bei feierlich bedeutenden Gelegenheiten angesprochen.

Indem sie nun in geschliffener Flasche den hochfarbigen Wein hinsetzte, rief sie aus: Hier ist das wahre Tyrannenblut! Daran ergötzt euch, aber alle Mordgedanken laßt mir aus dem Hause!

„Ja wohl Tyrannenblut! rief ich aus; keinen größeren Tyrannen gibt es, als den, dessen Herzblut man euch vorsetzt. Labt euch daran, aber mäßig! denn ihr müßt befürchten, daß er euch durch Wohlgeschmack und Geist unterjoche. Der Weinstock ist der Universal-Tyrann, der ausgerottet werden sollte; zum Patron sollten wir desßhalb den heiligen Lykurgus, den Thracier, wählen und verehren; er griff das fromme Werk kräftig an, aber, vom bethörenden Dämon Bacchus verblendet und verderbt, verdient er in der Zahl der Märtyrer oben an zu stehen.

Dieser Weinstock ist der allerschlimmste Tyrann, zugleich Heuchler, Schmeichler und Gewaltsamer. Die ersten Züge seines Blutes munden euch, aber ein Tropfen lockt den andern unaufhaltsam nach; sie folgen sich wie eine Perlenschnur, die man zu zerreißen fürchtet.“

Wenn ich hier, wie die besten Historiker gethan, eine fingirte Rede statt jener Unterhaltung einzuschieben in Verdacht gerathen könnte, so darf ich den Wunsch aussprechen, es möchte gleich ein Geschwindschreiber diese Peroration aufgefaßt und uns überliefert haben. Man würde die Motive genau dieselbigen und den Fluß der Rede vielleicht anmuthiger und einladender finden.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG I, BuG01_A_0402 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG01_A_0402.

Entspricht Druck:
BuG I, S. 332 (Ernst Grumach/Renate Grumach).

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