BuG:BuG I, A 370
Frankfurt Herbst/Winter 1774

Dichtung und Wahrheit XIII (WA I 28, 231)

Frankfurt Herbst/Winter 1774

Vorbereitet auf alles was man gegen den Werther vorbringen würde, fand ich so viele Widerreden keineswegs verdrießlich; aber daran hatte ich nicht gedacht, daß mir durch theilnehmende wohlwollende Seelen eine unleidliche Qual bereitet sei; denn anstatt daß mir jemand über mein Büchlein, wie es lag, etwas Verbindliches gesagt hätte, so wollten sie sämmtlich ein- für allemal wissen, was denn eigentlich an der Sache wahr sei; worüber ich denn sehr ärgerlich wurde, und mich meistens höchst unartig dagegen äußerte ...

Bei meiner Arbeit war mir nicht unbekannt, wie sehr begünstigt jener Künstler gewesen, dem man Gelegenheit gab, eine Venus aus mehrern Schönheiten herauszustudiren, und so nahm ich mir auch die Erlaubniß, an der Gestalt und den Eigenschaften mehrerer hübschen Kinder meine Lotte zu bilden, obgleich die Hauptzüge von der geliebtesten genommen waren. Das forschende Publicum konnte daher Ähnlichkeiten von verschiedenen Frauenzimmern entdecken, und den Damen war es auch nicht ganz gleichgültig, für die rechte zu gelten. Diese mehreren Lotten aber brachten mir unendliche Qual, weil jedermann der mich nur ansah, entschieden zu wissen verlangte, wo denn die eigentliche wohnhaft sei. Ich suchte mir wie Nathan mit den drei Ringen durchzuhelfen, auf einem Auswege, der freilich höheren Wesen zukommen mag, wodurch sich aber weder das gläubige, noch das lesende Publicum will befriedigen lassen.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG I, BuG01_A_0370 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG01_A_0370.

Entspricht Druck:
BuG I, S. 310 f. (Ernst Grumach/Renate Grumach).

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