BuG:BuG I, A 353
Frankfurt Okt. 1774

Dichtung und Wahrheit XIV (WA I 28, 253)

Frankfurt Okt. 1774

Man liebt an dem Mädchen was es ist, und an dem Jüngling was er ankündigt, und so war ich Klingers Freund, sobald ich ihn kennen lernte. Er empfahl sich durch eine reine Gemüthlichkeit, und ein unverkennbar entschiedener Charakter erwarb ihm Zutrauen ... Einem solchen Jüngling mußten Rousseau’s Werke vorzüglich zusagen. Emil war sein Haupt- und Grundbuch, und jene Gesinnungen fruchteten um so mehr bei ihm, als sie über die ganze gebildete Welt allgemeine Wirkung ausübten, ja bei ihm mehr als bei andern. Denn auch er war ein Kind der Natur, auch er hatte von unten auf angefangen; das was andere wegwerfen sollten, hatte er nie besessen, Verhältnisse, aus welchen sie sich retten sollten, hatten ihn nie beengt; und so konnte er für einen der reinsten Jünger jenes Natur-Evangeliums angesehen werden, und in Betracht seines ernsten Bestrebens, seines Betragens als Mensch und Sohn, recht wohl ausrufen: alles ist gut, wie es aus den Händen der Natur kommt! – Aber auch den Nachsatz: alles verschlimmert sich unter den Händen der Menschen! drängte ihm eine widerwärtige Erfahrung auf. Er hatte nicht mit sich selbst, aber außer sich mit der Welt des Herkommens zu kämpfen, von deren Fesseln der Bürger von Genf uns zu erlösen gedachte. Weil nun, in des Jünglings Lage, dieser Kampf oft schwer und sauer ward, so fühlte er sich gewaltsamer in sich zurückgetrieben, als daß er durchaus zu einer frohen und freudigen Ausbildung hätte gelangen können: vielmehr mußte er sich durchstürmen, durchdrängen; daher sich ein bitterer Zug in sein Wesen schlich, den er in der Folge zum Theil gehegt und genährt, mehr aber bekämpft und besiegt hat.

Klinger, Stammbuchblatt für L. Schneider, Okt. 1774 (Euph. 9, 728)

Frankfurt Okt. 1774

Lieber will dir ein Geschichtgen erzählen – kurz und vielsagend. Mein bester [Goethe] gab mirs mit auf den Weg.

War ein großer breiter Fluß. Stand einer am Ufer, mußte hinüber, konte aber doch nicht. Auf der andern Seite saß ein Poet, sang ihm langes Lied vor, wie Pegasus über Flüsse, Berg u. alles geflohen – das machte den guten Kerl endlich ungehalten. Kam einer, sagte zu ihm: hör da hab ich dir einen Kahn, er ist leech. Das ist zwar wahr, will dich aber doch hinüber bringen. Er setze sich in den Kahn, der Schiffer lavirte – so kamen sie ans Ufer – was er zum Dichter sagte – Lieber wer wird sich in das mischen. Du weißt es [ist] ihnen nicht zu helffen.

Klinger, Das leidende Weib I u. II

Frankfurt Okt. 1774

Was dein Doktor letzt sagte, fällt mir immer ein. Es war ein breiter Fluß, sagte er, saß einer am Ufer, mußte hinüber, und wußte doch nicht hinüber zu kommen. Auf dem gegenseitigen Ufer saß ein Poet, sang ihm das Lied vor vom Pegasus, wie der über Berg, See und alles geflohen. Das ärgerte den Kerl. Kam einer zu ihm, sagte: hör, ich will dich hinüber bringen. Ich hab da einen Kahn, er ist zwar lech, ich will dich aber hinbringen. Der Kerl ruderte, und so kamen sie hin über den Fluß. Er gab dem Mann ein Trinkgeld, schmiß den Poet hinter die Ohren – und so geht die Welt, junger Herr!

... Ein wunderbarer Mensch, der Doktor. Den könnt ihr nun wieder alle nicht fassen. Der erste von den Menschen die ich je gesehen. Der alleinige mit dem ich seyn kann. Der trägt Sachen in seinem Busen. Die Nachkommen werden staunen, daß je so ein Mensch war.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG I, BuG01_A_0353 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG01_A_0353.

Entspricht Druck:
BuG I, S. 299 f. (Ernst Grumach/Renate Grumach).

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