BuG:BuG I, A 328
Nassau 27. 7. 1774

Dichtung und Wahrheit XIV (WA I 28, 277)

Nassau 27. 7. (?) 1774

Zu Nassau, bei Frau von Stein, einer höchst ehrwürdigen Dame, die der allgemeinsten Achtung genoß, fanden wir große Gesellschaft. Frau von Laroche war gleichfalls gegenwärtig, an jungen Frauenzimmern und Kindern fehlte es auch nicht. Hier sollte nun Lavater in physiognomische Versuchung geführt werden, welche meist darin bestand, daß man ihn verleiten wollte, Zufälligkeiten der Bildung für Grundform zu halten; er war aber beaugt genug, um sich nicht täuschen zu lassen. Ich sollte nach wie vor die Wahrhaftigkeit der Leiden Werthers und den Wohnort Lottens bezeugen, welchem Ansinnen ich mich nicht auf die artigste Weise entzog, dagegen die Kinder um mich versammelte, um ihnen recht seltsame Mährchen zu erzählen, welche aus lauter bekannten Gegenständen zusammengesonnen waren; wobei ich den großen Vortheil hatte, daß kein Glied meines Hörkreises mich etwa zudringlich gefragt hätte, was denn wohl daran für Wahrheit oder Dichtung zu halten sein möchte.

Basedow brachte das Einzige vor das Noth sei, nämlich eine bessere Erziehung der Jugend; weßhalb er die Vornehmen und Begüterten zu ansehnlichen Beiträgen aufforderte. Kaum aber hatte er, durch Gründe sowohl als durch leidenschaftliche Beredtsamkeit, die Gemüther wo nicht sich zugewendet, doch zum guten Willen vorbereitet, als ihn der böse antitrinitarische Geist ergriff, und er, ohne das mindeste Gefühl wo er sich befinde, in die wunderlichsten Reden ausbrach, in seinem Sinne höchst religiös, nach Überzeugung der Gesellschaft höchst lästerlich. Lavater, durch sanften Ernst, ich durch ableitende Scherze, die Frauen durch zerstreuende Spaziergänge, suchten Mittel gegen dieses Unheil; die Verstimmung jedoch konnte nicht geheilt werden. Eine christliche Unterhaltung, die man sich von Lavaters Gegenwart versprochen, eine pädagogische, wie man sie von Basedow erwartete, eine sentimentale, zu der ich mich bereit finden sollte, alles war auf einmal gestört und aufgehoben. Auf dem Heimwege machte Lavater ihm Vorwürfe, ich aber bestrafte ihn auf eine lustige Weise. Es war heiße Zeit, und der Tabaksdampf mochte Basedows Gaumen noch mehr getrocknet haben; sehnlichst verlangte er nach einem Glase Bier, und als er an der Landstraße von weitem ein Wirthshaus erblickte, befahl er höchst gierig dem Kutscher, dort stille zu halten. Ich aber, im Augenblicke, daß derselbe anfahren wollte, rufe ihm mit Gewalt gebieterisch zu, er solle weiter fahren! Basedow, überrascht, konnte kaum mit heiserer Stimme das Gegentheil hervorbringen. Ich trieb den Kutscher nur heftiger an, der mir gehorchte. Basedow verwünschte mich, und hätte gern mit Fäusten zugeschlagen; ich aber erwiderte ihm mit der größten Gelassenheit: Vater, seid ruhig! Ihr habt mir großen Dank zu sagen. Glücklicherweise saht ihr das Bierzeichen nicht! Es ist aus zwei verschränkten Triangeln zusammengesetzt. Nun werdet ihr über Einen Triangel gewöhnlich schon toll; wären euch die beiden zu Gesicht gekommen, man hätte euch müssen an Ketten legen. Dieser Spaß brachte ihn zu einem unmäßigen Gelächter, zwischendurch schalt und verwünschte er mich, und Lavater übte seine Geduld an dem alten und jungen Thoren.

Zur Farbenlehre. Polemischer Theil (LA I 5, 124)

Nassau 27. 7. (?) 1774

Es fällt uns bei dieser Gelegenheit ein, daß Basedow, der ein starker Trinker war, und in seinen besten Jahren in guter Gesellschaft einen sehr erfreulichen Humor zeigte, stets zu behaupten pflegte: die Konklusion ergo bibamus passe zu allen Prämissen.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG I, BuG01_A_0328 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG01_A_0328.

Entspricht Druck:
BuG I, S. 290 f. (Ernst Grumach/Renate Grumach).

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