BuG:BuG I, A 322
Elberfeld 22. 7. 1774

J. H. Jung-Stilling, Lebensgeschichte (Grollmann S. 321)

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Elberfeld 22. 7. 1774

Einsmals des Morgens früh [wurde Stilling] in einen Gasthof gerufen, man sagte ihm, es sey ein fremder Patient da, der ihn gerne sprechen möchte; er zog sich also an und ging hin; man führte ihn ins Schlafzimmer des Fremden. Hier fand er nun den Kranken mit einem dicken Tuch um den Hals, und den Kopf in Tücher verhüllt; der Fremde streckte die Hand aus dem Bette, und sagte mit schwacher und dumpfer Stimme: Herr Doktor! fühlen Sie mir einmal den Puls, ich bin gar krank und schwach; Stilling fühlte und fand den Puls sehr regelmäßig und gesund; er erklärte sich also auch so und erwiederte: ich finde gar nichts Krankes, der Puls geht ordentlich; so wie er das sagte, hing ihm Göthe am Hals. Stillings Freude war unbeschreiblich; er führte ihn also in sein Haus, auch Christine war froh, diesen Freund zu sehen, und rüstete sich zum Mittags-Essen. Nun führte er Göthe hinaus auf einen Hügel, um ihm die schöne Aussicht über die Stadt und das Thal hinauf zu zeigen.

Gerade zu dieser Zeit waren die Gebrüder Vollkraft [Jacobi] wieder auf Kommission da: sie hatten einen Freund [Heinse] bei sich, der sich durch schöne Schriften sehr berühmt gemacht hat, den aber Stilling wegen seiner satyrischen und juvenalischen Geißel nicht leiden mochte; er besuchte also jetzt seine Freunde wenig, denn Juvenal (so will ich den Mann einstweilen nennen) neckte ihn immer wegen seiner Anhänglichkeit an die Religion. Während der Zeit, daß Stilling mit Göthe spazieren ging, kam Herr Hofkammerrath Vollkraft [F. H. Jacobi] zu Pferde an Stillings Thür gesprengt, und rief der Magd zu, sie sollte ihrem Herrn sagen, er sey plötzlich nach Rüsselstein abgereist, weil Göthe dort wäre; Christine war gerade nicht bei der Hand, um ihn von der Lage der Sache zu benachrichtigen. Vollkraft trabte also eiligst fort. So wie Göthe und Stilling nach Haus kamen, und ihnen die Magd den Vorfall erzählte, so bedauerten sie Beide den Irrthum; indessen wars nun nicht zu ändern.

Göthen’s Veranlassung zu dieser Reise war eigentlich folgende: Lavater besuchte das Emserbad und von da machte er eine Reise nach Mühlheim am Rhein, um dort einen Freund zu besuchen; Göthe war ihm bis Ems gefolgt, und um allerhand Merkwürdigkeiten und berühmte Männer zu sehen, hatte er ihn bis Mühlheim begleitet; hier ließ nun Göthe Lavater zurück, und machte einen Streifzug über Rüsselstein [Düsseldorf] nach Schönenthal [Elberfeld], um auch seinen alten Freund Stilling heimzusuchen; zugleich aber hatte er Lavater versprochen, auf eine bestimmte Zeit wieder nach Mühlheim zu kommen, und mit ihm zurück zu reisen. Während Göthen’s Abwesenheit aber bekommt Lavater Veranlassung, auch nach Rüsselstein und von da nach Schönenthal zu gehen, von dem allen aber wußte Göthe kein Wort. Als er daher mit Stilling zu Mittag gegessen hatte, machte er sich mit obigem Juvenal zu Pferde wieder auf den Weg nach Rüsselstein, um dort Vollkraften anzutreffen. Kaum waren Beide fort, so kam Lavater in Begleitung Vollkrafts, des bekannten Hasenkamp von Duisburg, und des höchst merkwürdigen, frommen und gelehrten Doktors Collenbusch die Gasse hereingefahren. Dieß wurde Stilling angezeigt, er flog also den beiden Reitern nach und brachte sie wieder zurück.

Lavater und seine Begleiter waren mittlerweile bei einem bekannten und die Religion liebenden Kaufmann [Caspari] eingekehrt; Stilling, Göthe und Juvenal eilten also auch dahin. Niemals hat sich wohl eine seltsamer gemischte Gesellschaft beisammen gefunden, als jetzt um den großen ovalrunden Tisch her, der zugleich auf Schönenthaler Art mit Speisen besetzt war. Es ist der Mühe werth, daß ich diese Gäste nur aus dem Groben zeichne.

Lavaters Ruf der praktischen Gottseligkeit hatte unter Andern einen alten Ter Steeglaner [Teschenmacher] herbeigelockt; dieser war ein in aller Rücksicht verehrungswürdiger Mann, der nach den Grundsätzen der reinen Mystik, unverheirathet, äusserst heikel in der Wahl des Umgangs, sehr freundlich, ernst, voll sanfter Züge im Gesicht, ruhig im Blick, und übrigens in allen seinen Reden behutsam war; er wog alle seine Worte auf der Goldwage ab, kurz, er war ein herrlicher Mann, wenn ich nur das einzige Eigensinnige ausnehme, das alle dergleichen Leute so leicht annehmen, indem sie intolerant gegen Alle sind, die nicht so denken wie sie! Dieser ehrwürdige Mann saß mit seinem runden, lebhaften Gesicht, runden Stutzperücke und schwarzen Unterkleidern oben an; mit einer Art von freundlicher Unruhe schaute er um sich, sagte auch wohl zuweilen heimliche Ermahnungsworte, denn er witterte Geister von ganz andern Gesinnungen.

Neben diesem saß der Hofkammerrath Vollkraft, ein feiner Weltmann, wie es wenige gibt, im Reisehabit, doch nach der Mode gekleidet; sein lebhaftes Naturell sprühte Funken des Witzes und sein hochrectificirtes philosophisches Gefühl urtheilte immer nach dem Zünglein in der Wage des Wohlstandes, des Lichts und des Rechts.

Auf diesen folgte sein Bruder, der Dichter: von seinem ganzen Daseyn strömte sanfte gefällige Empfindung und Wohlwollen gegen Gott und Menschen, sie mochten nun übrigens denken und glauben was sie wollten, wenn sie nur gut und brav waren; sein grauer Flockenhut lag hinter ihm im Fenster und der Körper war mit einem bunten Sommerfrack bekleidet.

Dann saß der Hauswirth neben diesem; er hatte eine pechschwarze Perücke mit einem Haarbeutel auf dem Kopfe und einen braunen zizenen Schlafrock an, der mit einer grünen seidenen Schärpe umgürtet war; seine großen, hervorragenden Augen starrten unter der hohen und breiten Stirne hervor, sein Kinn war spitzig, überhaupt das Gesicht dreieckigt und hager, aber voller Züge des Verstandes, er horchte lieber, als daß er redete, und wenn er sprach, so war Alles vorher in seiner Gehirnkammer wohl abgeschlossen und decretirt worden; seiner Tauben-Einfalt fehlte es an Schlangenklugheit wahrlich nicht!

Jetzt kam nun die Reihe an Lavater; sein Evangelisten-Johannes-Gesicht riß alle Herzen mit Gewalt zur Ehrfurcht und Liebe an sich, und sein munterer, gefälliger Witz, verpaart mit einer lebhaften und unterhaltenden Laune, machte sich alle Anwesende, die sich nicht durch Witz und Laune zu versündigen glaubten, ganz zu eigen. Indessen waren unter der Hand seine physiognomischen Fühlhörner, denen es hier an Stoff nicht fehlte, immer geschäftig; er hatte einen geschickten Zeichenmeister bei sich, der auch seine Hände nicht in den Schooß legte.

Neben Lavater saß Hasenkamp, ein vierzigjähriger etwas gebückter, hagerer hectischer Mann, mit einem länglichten Gesicht, merkwürdiger Physiognomie, und überhaupt Ehrfurcht erweckendem Ansehen; jedes Wort war ein Nachdenken und Wohlgefallen erregendes Paradoxon, selten mit dem System übereinstimmend; sein Geist suchte allenthalben Luft und ängstete sich in seiner Hülle nach Wahrheit, bis er sie bald zersprengte und mit einem lauten Hallelujah zur Quelle des Lichts und der Wahrheit emporflog; seine einzelnen Schriften machen Orthodoxe und Heterodoxe den Kopf schütteln, aber man muß ihn gekannt haben; er schritt, mit dem Perspektiv in der Hand, beständig im Lande der Schatten hin und her, und schaute hinüber in die Gegend der Lichtsgefilde, wenn die blendenden Strahlen ihm zuweilen das Auge trübten!

Auf ihn folgte Collenbusch, ein theologischer Arzt oder medicinischer Gottesgelehrter; sein Angesicht war so auffallend, wie je eins seyn kann – ein Gesicht, das Lavaters ganzes System erschütterte; es enthielt nichts Widriges, nichts Böses, aber auch von Allem nichts, auf welches er Seelengröße baute; indessen strahlte aus seinen, durch die Kinderblattern verstellten Zügen eine geheime, stille Majestät hervor, die man nur erst nach und nach im Umgang entdeckte; seine mit dem schwarzen und grauen Staar kämpfenden Augen und sein immer offener, zwei Reihen schöner weißer Zähne zeigender Mund schienen die Wahrheit, Welträume weit herbeiziehen zu wollen, und seine höchst gefällige, einnehmende Sprache, verbunden mit einem hohen Grad von Artigkeit und Bescheidenheit, fesselten jedes Herz, das sich ihm näherte.

Jetzt folgte in der Reihe mein Juvenal: man denke sich ein kleines, junges, rundköpfigtes Männchen, den Kopf etwas nach einer Schulter gerichtet, mit schalkhaften hellen Augen und immer lächelnder Miene; er sprach nichts, sondern beobachtete nur; seine ganze Atmosphäre war Kraft der Undurchdringlichkeit, die Alles zurückhielt, was sich ihm nähern wollte.

Dann saß neben ihm ein junger edler Schönenthaler Kaufmann [Grahe], ein Freund von Stilling, ein Mann voller Religion ohne Pietismus, glühend von Wahrheitshunger, ein Mann, wie es Wenige gibt!

Nun folgte Stilling, er saß da mit tiefem, geheimem Kummer auf der Stirn, den jetzt die Umstände erhellten, er sprach hin und her, und suchte Jedem sein Herz zu zeigen, wie es war.

Dann schlossen noch einige unbedeutende, bloß die Lücke ausfüllende Gesichter den Kreis. Göthe aber konnte nicht sitzen, er tanzte um den Tisch her, machte Gesichter und zeigte allenthalben, nach seiner Art, wie königlich ihn der Zirkel von Menschen gaudire. Die Schönenthaler glaubten, Gott sey bei uns! der Mensch müsse nicht recht klug seyn; Stilling aber und Andere, die ihn und sein Wesen besser kannten, meinten oft vor Lachen zu bersten, wenn ihn einer mit starren und gleichsam bemitleidenden Augen ansah, und er dann mit großem hellem Blick ihn darnieder schoß.

Diese Scene währte, ziemlich tumultuarisch, kaum eine halbe Stunde, als Lavater, Hasenkamp, Collenbusch, der junge Kaufmann und Stilling zusammen aufbrachen, und in der heitern Abendsonne das paradiesische Thal hinaufwanderten, um den ... vortrefflichen Theodor Müller zu besuchen ... während der Zeit waren Göthe und Juvenal nach Rüsselstein verreist ... Göthe nahm den Aufsatz von Stillings Lebensgeschichte mit, um ihn zu Hause mit Muse lesen zu können.

W. Heinse an Klamer Schmidt 13. 10. 1774 (Schüddekopf 9, 229)

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Lavater ist mit aller seiner Schwärmerey ein liebenswürdiger Mann ... Der erste Auftritt, wo ich ihn sah, muß von einer Meisterhand gezeichnet werden; und die hab ich nicht, und meine wenige Kräfte dazu anzuwenden hab’ ich jezt keine Zeit. Es ist die einzige Scene ihrer Art, die vielleicht noch an keinem andern Orte der Welt ihres gleichen gehabt hat. Denket euch indessen nur: von ohngefehr in eine Stube zusammen geführt, zuerst Göthen (den wilden Verfasser von Göttern Helden und Wieland) Heinsen (den Verfasser des Petron und der Laidion) Lavatern den Ausseher darauf, nach diesem den größten Pietisten unsrer Gegend Hasenkamp, dann den Doctor Jung der die Asineide im Merkur gemacht hat, auch einen Pietisten; dann Deschenmacher, auch einen berühmten Pietisten, und meinen Fritz Jakobi; und einen Mahler [Schmoll] Göthens Freund; und 6 Damen und Herrn, auch Pietisten, die uns zusammen zu sehn kamen, und höret Göthen Klopstocks Messias gegen Hasenkamp vertheidigen und Herders Urkunde; und höret ihn mich loben; und seht ihn dann Lavatern zärtlich küssen und seht die Gesichter voll Verwunderung und Erstaunen darob; und seht uns dann alle friedlich zusammen ein Glas Wein trinken, und unsrer Pferde Sattel besorgen, wieder zurück kehren, und Lavatern schon eine Betstunde halten sehen, und Abschied von ihm nehmen. Alles dieß geschah zu Elberfeld. Göthe, Fritz Jacobi und ich ritten dann darauf nach Düsseldorf, und Göthe blieb zween Tage bey uns.

J. G. Hasencamp, Tagebuch (Bach S. 146)

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In Elberfeld kehrten wir bei dem dienstfertigen Caspari ein, uns ein wenig auszuruhen ... Hier trafen wir den frankfurtischen Zuchtmeister unsern Dichter Herrn Doctor Goethen, nebst einem andern Gelehrten [Heinse], den einige den zweiten Wieland, der sich selbst aber Rost nennet. Jenem schlug ich vor, ob nicht Klopstoks Messiade so umgearbeitet werden dürfte, daß alle Scholastischen Ideen, die das Evangelium der Herrlichkeit verdunkeln mit lauter Schriftwahrheiten vertauscht würden? Wir sollen reden, wie der König der Wahrheit. Ich ersuchte ihn auch, wie Gellert eine Comödie geschrieben: Die Bethschwester. So möchte er eine schreiben: die Gebeths-Verehrer. Er war nicht unwillig dazu. Die Ungläubigen, wenn sie die Zweifel überwinden, werden hernach die besten Vertheidiger des Glaubens.

Der erfahrne Mystiker unser redlicher Teschemacher, redete hier mit Lavater von der Eitelkeit der Gelehrten, und von der Gefahr bei ihrer Vielgeschäftigkeit u. Gemeinnützigkeit ihre eigne Heiligung zu versäumen. Der gelehrte Mystiker, unser Poetischer Doct. Jung erhob des seel. Richters Lieder u. sang u. spielte uns vor aus dem Liede: O Salomo! Dein freundliches Regieren Terstegens Lieder wurden auch gelobet u. Caspari machte Lavatern damit ein Geschenk.

W. Heinse an Klamer Schmidt 13. 10. 1774 (Schüddekopf 9, 228)

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Göthe sagte: es [Heinses Laidion] wird schon eingreifen, so wie die Vorrede zum Petron, ob’s gleich was ganz anders ist; laßt die Kerls raisonieren, was sie wollen; sie machen uns unsre Leute damit nicht anders; in den Charaktern ist hier und da ein bißchen gelogen, aber mich hat’s entzückt. – Und was die Stanzen betrift, so was hab’ ich für unmöglich gehalten. Es ist weiter doch nichts als eine Jouissance, aber der Teufel mach dir 50 solche Stanzen darüber nach – Kurz; ich darf nichts darüber sagen, es ist so vieles darinn, das nicht anders ist, als ob ich’s selbst geschrieben hätte – Ein andrer verhurt seine Säfte, ihr habt Stanzen daraus gemacht. So ist’s.

W. Heinse an Gleim 8. 9. 1775 (Schüddekopf 9, 254)

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Daß Göthe Götterkraft hat in seinem Wesen, weiß Jedermann; und auch darauf bin ich stolz, daß er [über Heinses Laidion] ... in Beyseyn Lavaters sagte: ich glaubte nicht, das so was in der deutschen Sprache möglich wäre.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG I, BuG01_A_0322 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG01_A_0322.

Entspricht Druck:
BuG I, S. 276 ff. (Ernst Grumach/Renate Grumach).

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