BuG:BuG I, A 284
Frankfurt 1. Hälfte Mai 1774

Dichtung und Wahrheit XV (WA I 28, 344)

Frankfurt 1. Hälfte Mai 1774

Die früher erwähnte Gesellschaft ... von jungen Männern und Frauenzimmern, welche meiner Schwester wo nicht den Ursprung doch die Consistenz verdankte, war nach ihrer Verheirathung und Abreise noch immer bestanden, weil man sich einmal an einander gewöhnt hatte, und einen Abend in der Woche nicht besser als in diesem freundschaftlichen Cirkel zuzubringen wußte ...

Weil nun bei jeder unserer geselligen Zusammenkünfte etwas Neues vorgelesen werden mußte, so brachte ich eines Abends, als ganz frische Neuigkeit, das Memoire des Beaumarchais gegen Clavigo im Original mit. Es erwarb sich sehr vielen Beifall; die Bemerkungen, zu denen es auffordert, blieben nicht aus, und nachdem man viel darüber hin und wieder gesprochen hatte, sagte mein lieber Partner [Susanne Magdalene Münch]: wenn ich deine Gebieterin und nicht deine Frau wäre, so würde ich dich ersuchen, dieses Memoire in ein Schauspiel zu verwandeln, es scheint mir ganz dazu geeignet zu sein. – Damit du siehst, meine Liebe, antwortete ich, daß Gebieterin und Frau auch in Einer Person vereinigt sein können, so verspreche ich, heut über acht Tage den Gegenstand dieses Heftes als Theaterstück vorzulesen, wie es jetzt mit diesen Blättern geschehen. Man verwunderte sich über ein so kühnes Versprechen, und ich säumte nicht es zu erfüllen. Denn was man in solchen Fällen Erfindung nennt, war bei mir augenblicklich; und gleich, als ich meine Titular-Gattin nach Hause führte, war ich still; sie fragte, was mir sei? – Ich sinne, versetzte ich, schon das Stück aus und bin mitten drin; ich wünsche dir zu zeigen, daß ich dir gerne etwas zu Liebe thue. Sie drückte mir die Hand, und als ich sie dagegen eifrig küßte, sagte sie: du mußt nicht aus der Rolle fallen! Zärtlich zu sein, meinen die Leute, schicke sich nicht für Ehegatten. – Laß sie meinen, versetzte ich, wir wollen es auf unsere Weise halten.

Ehe ich, freilich durch einen großen Umweg, nach Hause kam, war das Stück schon ziemlich herangedacht ... Um zuletzt abzuschließen, entlehnt’ ich den Schluß einer englischen Ballade, und so war ich immer noch eher fertig als der Freitag herankam. Die gute Wirkung, die ich bei’m Vorlesen erreichte, wird man mir leicht zugestehen. Meine gebietende Gattin erfreute sich nicht wenig daran, und es war, als wenn unser Verhältniß, wie durch eine geistige Nachkommenschaft, durch diese Production sich enger zusammenzöge und befestigte.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG I, BuG01_A_0284 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG01_A_0284.

Entspricht Druck:
BuG I, S. 247 f. (Ernst Grumach/Renate Grumach).

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