BuG:BuG I, A 103
Frankfurt Sept. 1768

Dichtung und Wahrheit VIII (WA I 27, 196)

Frankfurt Sept. 1768

Je mehr ich mich nun meiner Vaterstadt näherte, desto mehr rief ich mir, bedenklicher Weise, zurück, in welchen Zuständen, Aussichten, Hoffnungen ich von Hause weggegangen, und es war ein sehr niederschlagendes Gefühl, daß ich nunmehr gleichsam als ein Schiffbrüchiger zurückkehrte. Da ich mir jedoch nicht sonderlich viel vorzuwerfen hatte, so wußte ich mich ziemlich zu beruhigen; indessen war der Willkommen nicht ohne Bewegung. Die große Lebhaftigkeit meiner Natur, durch Krankheit gereizt und erhöht, verursachte eine leidenschaftliche Scene. Ich mochte übler aussehen als ich selbst wußte: denn ich hatte lange keinen Spiegel zu Rathe gezogen; und wer wird sich denn nicht selbst gewohnt! genug man kam stillschweigend überein, mancherlei Mittheilungen erst nach und nach zu bewirken und vor allen Dingen sowohl körperlich als geistig einige Beruhigung eintreten zu lassen.

An A. F. Oeser 13. 9. 1768 (WA IV 1, 161)

Frankfurt Sept. 1768

Zwölf Tage bin ich nun wieder in meiner wehrten Vaterstadt, von Anverwandten, und Freunden, und Bekanndten umgeben die sich über meine Ankunft teils freuen, teils verwundern, und alle sich bemüen, dem neuen Ankömling, dem halben Fremdling gefällig zu seyn, und ihm eine Stadt, die zusehr Antithese von Leipzig ist um viel Annehmlichkeiten für ihn zu haben, durch einen freundschafftlichen Umgang erträglich zu machen ... Ich schreibe Ihnen auch für dießmal nichts, als daß meine Ankunft nach einer glücklichen Reise, eine erwünschte Ruhe über meine Famielie verbreitet hat, daß meine Kranckheit, die nach dem Ausspruch meiner hiesigen Aertzte nicht sowohl in der Lunge als in denen dazu führenden Teilen liegt, sich täglich zu bessern scheint. Daß Ihr Tischer nachdem er sich einige Tage bey uns aufgehalten, mit guten Empfelungsschreiben an den Ort seiner Bestimmung, in der Hoffnung seine Sache sogut als möglich auszuführen gereißt ist, und sich Ihnen und Ihrem ganzen Hause bestens empfelen läßt.

Dichtung und Wahrheit VIII (WA I 27, 196)

Frankfurt Sept. 1768

Meine Schwester gesellte sich gleich zu mir, und wie vorläufig aus ihren Briefen, so konnte ich nunmehr umständlicher und genauer die Verhältnisse und die Lage der Familie vernehmen ... So hatte sie auf eine Weise, die mir fürchterlich erschien, ihre Härte gegen den Vater gewendet, dem sie nicht verzieh, daß er ihr diese drei Jahre lang so manche unschuldige Freude verhindert oder vergällt, und von dessen guten und trefflichen Eigenschaften sie auch ganz und gar keine anerkennen wollte. Sie that alles was er befahl und anordnete, aber auf die unlieblichste Weise von der Welt. Sie that es in hergebrachter Ordnung, aber auch nichts drüber und nichts drunter. Aus Liebe oder Gefälligkeit bequemte sie sich zu nichts, so daß dieß eins der ersten Dinge war, über die sich die Mutter in einem geheimen Gespräch mit mir beklagte. Da nun aber meine Schwester so liebebedürftig war, als irgend ein menschliches Wesen, so wendete sie nun ihre Neigung ganz auf mich. Ihre Sorge für meine Pflege und Unterhaltung verschlang alle ihre Zeit; ihre Gespielinnen, die von ihr beherrscht wurden, ohne daß sie daran dachte, mußten gleichfalls allerlei aussinnen, um mir gefällig und trostreich zu sein. Sie war erfinderisch mich zu erheitern, und entwickelte sogar einige Keime von possenhaftem Humor, den ich an ihr nie gekannt hatte, und der ihr sehr gut ließ. Es entspann sich bald unter uns eine Cotterie-Sprache, wodurch wir vor allen Menschen reden konnten, ohne daß sie uns verstanden, und sie bediente sich dieses Rothwälsches öfters mit vieler Keckheit in Gegenwart der Eltern.

Persönlich war mein Vater in ziemlicher Behaglichkeit. Er befand sich wohl, brachte einen großen Theil des Tags mit dem Unterrichte meiner Schwester zu, schrieb an seiner Reisebeschreibung, und stimmte seine Laute länger als er darauf spielte. Er verhehlte dabei so gut er konnte den Verdruß, anstatt eines rüstigen thätigen Sohns, der nun promoviren und jene vorgeschriebene Lebensbahn durchlaufen sollte, einen Kränkling zu finden, der noch mehr an der Seele als am Körper zu leiden schien. Er verbarg nicht seinen Wunsch, daß man sich mit der Cur expediren möge; besonders aber mußte man sich mit hypochondrischen Äußerungen in seiner Gegenwart in Acht nehmen, weil er alsdann heftig und bitter werden konnte.

Dichtung und Wahrheit VIII (WA I 27, 216)

Frankfurt Sept. 1768

Mir war es lustig genug zu sehen, wie ich dasjenige was Gellert uns im Collegium überliefert oder gerathen, sogleich wieder [brieflich] gegen meine Schwester gewendet, ohne einzusehen, daß sowohl im Leben als im Lesen etwas dem Jüngling gemäß sein könne, ohne sich für ein Frauenzimmer zu schicken; und wir scherzten gemeinschaftlich über diese Nachäfferei.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG I, BuG01_A_0103 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG01_A_0103.

Entspricht Druck:
BuG I, S. 113 (Ernst Grumach/Renate Grumach).

Zurück zum Seitenanfang