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Frankfurt vor Sommer 1756

Dichtung und Wahrheit I (WA I 26, 27)

Frankfurt vor Sommer 1756

Aus dem großen Kaisersaale konnte man uns nur mit sehr vieler Mühe wieder herausbringen, wenn es uns einmal geglückt war hineinzuschlüpfen; und wir hielten denjenigen für unsern wahrsten Freund, der uns bei den Brustbildern der sämmtlichen Kaiser, die in einer gewissen Höhe umher gemahlt waren, etwas von ihren Thaten erzählen mochte.

Von Karl dem Großen vernahmen wir manches Mährchenhafte; aber das Historisch-Interessante für uns fing erst mit Rudolf von Habsburg an, der durch seine Mannheit so großen Verwirrungen ein Ende gemacht. Auch Karl der Vierte zog unsre Aufmerksamkeit an sich. Wir hatten schon von der Goldnen Bulle und der peinlichen Halsgerichtsordnung gehört, auch daß er den Frankfurtern ihre Anhänglichkeit an seinen edlen Gegenkaiser, Günther von Schwarzburg, nicht entgelten ließ. Maximilianen hörten wir als einen Menschen- und Bürgerfreund loben, und daß von ihm prophezeit worden, er werde der letzte Kaiser aus einem deutschen Hause sein; welches denn auch leider eingetroffen, indem nach seinem Tode die Wahl nur zwischen dem König von Spanien, Karl dem Fünften, und dem König von Frankreich, Franz dem Ersten, geschwankt habe. Bedenklich fügte man hinzu, daß nun abermals eine solche Weissagung oder vielmehr Vorbedeutung umgehe: denn es sei augenfällig, daß nur noch Platz für das Bild Eines Kaisers übrig bleibe; ein Umstand, der obgleich zufällig scheinend, die Patriotischgesinnten mit Besorgniß erfülle ...

Mit vieler Begierde vernahm der Knabe sodann, was ihm die Seinigen so wie ältere Verwandte und Bekannte gern erzählten und wiederholten, die Geschichten der zuletzt kurz auf einander gefolgten Krönungen ... Alle diese Beschreibungen und Erzählungen geschahen mit heitrem und beruhigtem Gemüth: denn der Aachner Friede hatte für den Augenblick aller Fehde ein Ende gemacht, und wie von jenen Feierlichkeiten, so sprach man mit Behaglichkeit von den vorübergegangenen Kriegszügen, von der Schlacht bei Dettingen, und was die merkwürdigsten Begebenheiten der verflossenen Jahre mehr sein mochten.

Dichtung und Wahrheit I (WA I 26, 36)

Frankfurt vor Sommer 1756

Wir Kinder waren bei diesem Feste [dem Pfeifergericht] besonders interessirt, weil es uns nicht wenig schmeichelte, unsern Großvater an einer so ehrenvollen Stelle zu sehen, und weil wir gewöhnlich noch selbigen Tag ihn ganz bescheiden zu besuchen pflegten, um, wenn die Großmutter den Pfeffer in ihre Gewürzladen geschüttet hätte, einen Becher und Stäbchen, ein Paar Handschuh oder einen alten Räder-Albus zu erhaschen. Man konnte sich diese symbolischen, das Alterthum gleichsam hervorzaubernden Ceremonien nicht erklären lassen, ohne in vergangene Jahrhunderte wieder zurückgeführt zu werden, ohne sich nach Sitten, Gebräuchen und Gesinnungen unserer Altvordern zu erkundigen, die sich durch wieder auferstandene Pfeifer und Abgeordnete, ja durch handgreifliche und für uns besitzbare Gaben, auf eine so wunderliche Weise vergegenwärtigten.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG I, BuG01_A_0007 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG01_A_0007.

Entspricht Druck:
BuG I, S. 6 (Ernst Grumach/Renate Grumach).

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