BuG:BuG I, A 430
Zürich 26. 6. 1775

Dichtung und Wahrheit XIX (WA I 29, 137)

Zürich 26. 6. 1775

In Zürich angelangt gehörte ich Lavatern, dessen Gastfreundschaft ich wieder ansprach, die meiste Zeit ganz allein. Die Physiognomik lag mit allen ihren Gebilden und Unbilden dem trefflichen Manne mit immer sich vermehrenden Lasten auf den Schultern. Wir verhandelten alles den Umständen nach gründlich genug, und ich versprach ihm dabei nach meiner Rückkehr die bisherige Theilnahme ...

Lavaters Geist war durchaus imposant; in seiner Nähe konnte man sich einer entscheidenden Einwirkung nicht erwehren und so mußt’ ich mir denn gefallen lassen, Stirn und Nase, Augen und Mund einzeln zu betrachten, und eben so ihre Verhältnisse und Bezüge zu erwägen. Jener Seher that dieß nothgedrungen, um sich von dem, was er so klar anschaute, vollkommene Rechenschaft zu geben; mir kam es immer als eine Tücke, als ein Spioniren vor, wenn ich einen gegenwärtigen Menschen in seine Elemente zerlegen und seinen sittlichen Eigenschaften dadurch auf die Spur kommen wollte. Lieber hielt ich mich an sein Gespräch, in welchem er nach Belieben sich selbst enthüllte. Hiernach will ich denn nicht läugnen, daß es in Lavaters Nähe gewissermaßen bänglich war: denn indem er sich auf physiognomischem Wege unsrer Eigenschaften bemächtigte, so war er in der Unterredung Herr unsrer Gedanken, die er im Wechsel des Gespräches mit einigem Scharfsinn gar leicht errathen konnte.

Tagebuch der Physicalischen Gesellschaft in Zürich 26. 6. 1775 (GJb 1, 371)

Zürich 26. 6. 1775

Praesente: Ihro Gn. Herrn Burgerm. H[eidegger].

Praeside: M. Hochg. H. Chorherr Gessner.

Vermischte Physiognomische Beobachtungen, Fragen und Grundsätze – von Hrn. Pf[ar]rh[e]lf[e]r Lavater.

Der feste Theil des Schädels gibt den Bau der Stärke zu erkennen, die Haut der Stirne, ihre Runzeln drücken die Leidenschaften aus. Der feste Theil zeigt mehr von der Anlage, der bewegliche (hiermit eben die Stirnhaut) von dem Zufälligen.

L. Ich habe noch nie eine vollkommen gerade scheinende perpendiculäre Stirne in einer sanften weiblich gütigen Physiognomie gesehen.

In schreger gerader Stirne desto mehr Lebhaftigkeit in dem Character.

Die gemachten Einwendungen und Anmerkungen vermochten Hrn Pfr. Lavater theils auf die Berichtigungen des Ausdrucks zu denken, theils auch jedem Aphorismo eine Zeichnung beizufügen und diese der Gesellschaft zu hinterlassen, in der Absicht, dass seine Beobachtungen untersucht und allfällig, wo gegründete Gegenbeobachtungen gemacht würden, berichtiget werden.

Hr. Caspar Füssli, Mahler, beschenkt die Gesellschaft mit seiner Enumeration der Schweizerischen Insecten, in welcher der Plan des grösseren Insecten-Werks vorkommt, welches er nebst den Herren Dr. Sulzer und Schellenberg veranstaltet.

Aderant:

  Zween Hrrn Grafen von Stolberg.
  Hr. Baron v. Haugwitz.
  Hr. Doctor juris Göthe von Frankfurt.
  Hr. Passavant V.D.M. von Frankfurt.
  Hr. Sulzer von Winterthur, Arzt und Hofrath an dem Hof zu Sachsen-Gotha.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG I, BuG01_A_0430 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG01_A_0430.

Entspricht Druck:
BuG I, S. 352 (Ernst Grumach/Renate Grumach).

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