BuG:BuG I, A 428
Schwyz - Vierwaldstätter See - St. Gotthard 23. 6. 1775

Dichtung und Wahrheit XIX (WA I 29, 128)

St. Gotthard 23. 6. 1775

Früh aufgestanden, befand ich mich bald zwar unter freiem Himmel, jedoch in engen, von hohen Gebirgskuppen umschlossenen Räumen. Ich hatte mich an den Fußpfad, der nach Italien hinunter ging, niedergelassen und zeichnete ...

Mein Gefährte trat muthig zu mir und begann: „Was sagst du zu der Erzählung unsres geistlichen Wirths von gestern Abend? Hast du nicht, wie ich, Lust bekommen, dich von diesem Drachengipfel hinab in jene entzückenden Gegenden zu begeben? Die Wanderung durch diese Schluchten hinab muß herrlich sein und mühelos, und wann sich’s dann bei Bellinzona öffnen mag, was würde das für eine Lust sein! Die Inseln des großen Sees sind mir durch die Worte des Paters wieder lebendig in die Seele getreten. Man hat seit Keyßlers Reisen so viel davon gehört und gesehen, daß ich der Versuchung nicht widerstehen kann.

„Ist dir’s nicht auch so? fuhr er fort: du sitzest gerade am rechten Fleck; schon einmal stand ich hier und hatte nicht den Muth hinabzuspringen. Geh voran ohne weiteres, in Airolo wartest du auf mich, ich komme mit dem Boten nach, wenn ich vom guten Pater Abschied genommen und alles berichtigt habe.“

So ganz aus dem Stegreif ein solches Unternehmen, will mir doch nicht gefallen, antwortete ich. – „Was soll da viel Bedenken,“ rief jener, „Geld haben wir genug nach Mailand zu kommen, Credit wird sich finden, mir ist von unsern Messen her dort mehr als Ein Handelsfreund bekannt.“ Er ward noch dringender. Geh! sagte ich, mach’ alles zum Abschied fertig, entschließen wollen wir uns alsdann ...

Schnell stand ich auf, damit ich von der schroffen Stelle wegkäme und der mit dem refftragenden Boten heranstürmende Freund mich in den Abgrund nicht mit fortrisse. Auch ich begrüßte den frommen Pater und wendete mich, ohne ein Wort zu verlieren, dem Pfade zu, woher wir gekommen waren. Etwas zaudernd folgte mir der Freund und ungeachtet seiner Liebe und Anhänglichkeit an mich, blieb er eine Zeit lang eine Strecke zurück, bis uns endlich jener herrliche Wasserfall wieder zusammenbrachte, zusammenhielt und das einmal Beschlossene endlich auch für gut und heilsam gelten sollte ...

Ganz konnte mein Freund die rückgängige Wanderung nach Italien nicht verschmerzen; er mochte sich solche früher ausgedacht und mit liebevoller Arglist mich an Ort und Stelle zu überraschen gehofft haben. Deßhalb ließ sich die Rückkehr nicht so heiter vollführen ...

Nicht ohne manche neue wie erneuerte Empfindungen und Gedanken gelangten wir durch die bedeutenden Höhen des Vierwaldstätter Sees nach Küßnacht, wo wir landend und unsre Wanderung fortsetzend, die am Wege stehende Tellen-Capelle zu begrüßen und jenen der ganzen Welt als heroisch-patriotischrühmlich geltenden Meuchelmord zu gedenken hatten. Eben so fuhren wir über den Zuger-See, den wir schon vom Rigi herab aus der Ferne hatten kennen lernen ... Dann ging unser Weg über den Albis in das Sihlthal, wo wir einen jungen in der Einsamkeit sich gefallenden Hannoveraner, von Lindau, besuchten, um seinen Verdruß zu beschwichtigen, den er früher in Zürich über eine von mir nicht auf’s freundlichste und schicklichste abgelehnte Begleitung empfunden hatte. Die eifersüchtige Freundschaft des trefflichen Passavant war eigentlich Ursache an dem Ablehnen einer zwar lieben, aber doch unbequemen Gegenwart.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG I, BuG01_A_0428 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG01_A_0428.

Entspricht Druck:
BuG I, S. 350 f. (Ernst Grumach/Renate Grumach).

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