BuG:BuG I, A 427
Schwyz - Vierwaldstätter See - St. Gotthard 22. 6. 1775

Dichtung und Wahrheit XVIII. XIX (WA I 29, 122. 127)

St. Gotthard 22. 6. 1775

Den 22sten halb vier Uhr verließen wir unsere Herberge um aus dem glatten Urserner Thal in’s steinichte Liviner Thal einzutreten. Auch hier ward sogleich alle Fruchtbarkeit vermißt; nackte wie bemoos’te Felsen mit Schnee bedeckt, ruckweiser Sturmwind Wolken heran- und vorbeiführend, Geräusch der Wasserfälle, das Klingeln der Saumrosse in der höchsten Öde, wo man weder die Herankommenden noch die Scheidenden erblickte. Hier kostet es der Einbildungskraft nicht viel, sich Drachennester in den Klüften zu denken. Aber doch erheitert und erhoben fühlte man sich durch einen der schönsten, am meisten zum Bilde sich eignenden, in allen Abstufungen grandios mannichfaltigen Wasserfall, der gerade in dieser Jahreszeit vom geschmolzenen Schnee überreich begabt, von Wolken bald verhüllt bald enthüllt, uns geraume Zeit an die Stelle fesselte.

Endlich gelangten wir an kleine Nebelseen, wie ich sie nennen möchte, weil sie von den atmosphärischen Streifen kaum zu unterscheiden waren. Nicht lange so trat aus dem Dunste ein Gebäude entgegen: es war das Hospiz, und wir fühlten große Zufriedenheit uns zunächst unter seinem gastlichen Dache schirmen zu können.

Durch das leichte Kläffen eines uns entgegenkommenden Hündchens angemeldet, wurden wir von einer ältlichen aber rüstigen Frauensperson an der Thüre freundlich empfangen. Sie entschuldigte den Herrn Pater, welcher nach Mailand gegangen sei, jedoch diesen Abend wieder erwartet werde; alsdann aber sorgte sie, ohne viel Worte zu machen, für Bequemlichkeit und Bedürfniß. Eine warme geräumige Stube nahm uns auf; Brod, Käse und trinkbarer Wein wurden aufgesetzt, auch ein hinreichendes Abendessen versprochen. Nun wurden die Überraschungen des Tags wieder aufgenommen und der Freund that sich höchlich darauf zu Gute, daß alles so wohl gelungen und ein Tag zurückgelegt sei, dessen Eindrücke weder Poesie noch Prosa wieder herzustellen im Stande.

Bei spät einbrechender Dämmerung trat endlich der ansehnliche Pater herein, begrüßte mit freundlich vertraulicher Würde seine Gäste und empfahl mit wenigen Worten der Köchin alle mögliche Aufmerksamkeit. Als wir unsre Bewunderung nicht zurückhielten, daß er hier oben, in so völliger Wüste, entfernt von aller Gesellschaft, sein Leben zubringen gewollt, versicherte er: an Gesellschaft fehle es ihm nie, wie wir denn ja auch gekommen wären ihn mit unserm Besuche zu erfreuen. Gar stark sei der wechselseitige Waarentransport zwischen Italien und Deutschland. Dieser immerfortwährende Speditionswechsel setze ihn mit den ersten Handelshäusern in Verhältniß. Er steige oft nach Mailand hinab, komme seltener nach Luzern, von woher ihm aber aus den Häusern, welche das Postgeschäft dieser Hauptstraße zu besorgen hätten, zum öftern junge Leute zugeschickt würden, die hier oben auf dem Scheidepunct mit allen in diese Angelegenheiten eingreifenden Umständen und Vorfallenheiten bekannt werden sollten.

Unter solchen mannichfaltigen Gesprächen ging der Abend hin und wir schliefen eine ruhige Nacht in etwas kurzen an der Wand befestigten, eher an Repositorien als Bettstellen erinnernden Schlafstätten.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG I, BuG01_A_0427 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG01_A_0427.

Entspricht Druck:
BuG I, S. 349 f. (Ernst Grumach/Renate Grumach).

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