BuG:BuG I, A 420
Züricher See 15. 6. 1775

F. L. Graf zu Stolberg an Henriette Gräfin Bernstorff 16. 6. 1775 (Janssen 1, 43)

Züricher See 15. 6. 1775

Donnerstag früh machten wir uns auf und gingen zum See, der ganz nahe bei unserer Hütte ist, da kam denn auch das Boot aus der Stadt, darin waren Lavater, Heß, der das Leben Jesu geschrieben hat; sein Schwager, ein herrlicher, junger Mann, Göthe und zwei Frankfurter [Passavant und Kayser], recht gute Leute. Wir ließen uns zwei Stunden weit auf dem See rudern, es war ganz stille, dann reizten uns die schönen Ufer zu sehr und wir beschlossen, zu gehen ... Zu Mittag aßen wir bei einem Landpfarrer, der uns sehr liebreich empfing und uns der Milch, der Butter und des Kalbfleisches, wie Abraham, reichlich vorsetzte. Auch Kuchen und sehr schöne Kirschen. Von da gingen wir weiter, immer am See, niedliche Häuser lagen uns zur Rechten, Weinberge erhoben sich über die Häuser und über die Weinberge hohe Gebirge. Wir verließen den See, um in den Canton Schwyz nach dem Kloster Einsiedeln zu gehen. Lavater hatte Geschäfte und mußte umkehren. Die Scene änderte sich plötzlich, nun mußten wir einen schmalen, rauhen, steinigten Fußpfad hinaufklimmen, der auf beiden Seiten oft die schönsten Wiesen hatte und den unzählig viele Bäche durchschnitten ... Über Berg und Thal ging’s fort und wir kamen den Abend spät, nachdem wir sieben Stunden gemacht hatten, im Kloster St. Maria zu Einsiedeln an.

J. Hotze an Lavater 2. 7. 1775 (Bode2 3, 431)

Züricher See 15. 6. 1775

Wenn ich nur diesen Mann noch eine einzige Stunde hätte sehen, hören, genießen können! Dem man’s vom Haupthaar an bis zum Fußtritt hinab in allen Adern, Zügen, Bewegungen ansieht, daß er der Mann ist, der ‚Werthers Leiden‘ schreiben konnte. Er ließ ein Schnupftuch bei mir zurück, aber ich vermag es nicht, ihm’s zurückzuschicken. Dieses Andenken seines Seins bleibt bei mir.

Dichtung und Wahrheit XVIII (WA I 29, 111)

Züricher See 15. 6. 1775

Wir landeten in Richterswyl, wo wir an Doctor Hotze durch Lavater empfohlen waren. Er besaß als Arzt, als höchst verständiger, wohlwollender Mann ein ehrwürdiges Ansehn an seinem Orte und in der ganzen Gegend, und wir glauben sein Andenken nicht besser zu ehren, als wenn wir auf eine Stelle in Lavaters Physiognomik hinweisen, die ihn bezeichnet.

Auf’s beste bewirthet, auf’s anmuthigste und nützlichste auch über die nächsten Stationen unsrer Wanderung unterhalten, erstiegen wir die dahinter liegenden Berge. Als wir in das Thal von Schindellegi wieder hinabsteigen sollten, kehrten wir uns nochmals um, die entzückende Aussicht über den Züricher See in uns aufzunehmen ...

Die rauhen Wege, die von da nach Maria Einsiedeln führten, konnten unserm guten Muth nichts anhaben. Eine Anzahl von Wallfahrern, die schon unten am See von uns bemerkt, mit Gebet und Gesang regelmäßig fortschritten, hatten uns eingeholt; wir ließen sie begrüßend vorbei und sie belebten, indem sie uns zur Einstimmung in ihre frommen Zwecke beriefen, diese öden Höhen anmuthig charakteristisch ...

Nun sahen wir in einem öden baumlosen Thale die prächtige Kirche hervorsteigen, das Kloster, von weitem ansehnlichem Umfang in der Mitte von reinlicher Ansiedelung, um so eine große und mannichfaltige Anzahl von Gästen einigermaßen schicklich aufzunehmen ...

Man führte uns in die Schatzkammer, welche reich und imposant genug, vor allem lebensgroße, wohl gar colossale Büsten von Heiligen und Ordensstiftern dem staunenden Auge darbot. Doch ganz andere Aufmerksamkeit erregte der Anblick eines darauf eröffneten Schrankes. Er enthielt alterthümliche Kostbarkeiten, hierher gewidmet und verehrt. Verschiedene Kronen von merkwürdiger Goldschmiedsarbeit hielten meinen Blick fest, unter denen wieder eine ausschließlich betrachtet wurde. Eine Zackenkrone im Kunstsinne der Vorzeit, wie man wohl ähnliche auf den Häuptern alterthümlicher Königinnen gesehen, aber von so geschmackvoller Zeichnung, von solcher Ausführung einer unermüdeten Arbeit, selbst die eingefugten farbigen Steine mit solcher Wahl und Geschicklichkeit vertheilt und gegeneinander gestellt, genug ein Werk der Art, daß man es bei dem ersten Anblick für vollkommen erklärte, ohne diesen Eindruck kunstmäßig entwickeln zu können ...

Um uns die Besitzthümer des Klosters vollständig sehen zu lassen, führte man uns in ein Kunst-, Curiositäten- und Naturalien-Kabinett. Ich hatte damals von dem Werth solcher Dinge wenig Begriff; noch hatte mich die zwar höchst löbliche, aber doch den Eindruck der schönen Erdoberfläche vor dem Anschauen des Geistes zerstückelnde Geognosie nicht angelockt, noch weniger eine phantastische Geologie mich in ihre Irrsale verschlungen; jedoch nöthigte mich der herumführende Geistliche einem fossilen, von Kennern, wie er sagte, höchst geschätzten, in einem blauen Schieferthon wohl erhaltenen kleinen wilden Schweinskopf einige Aufmerksamkeit zu schenken, der auch, schwarz wie er war, für alle Folgezeit in der Einbildungskraft geblieben ist.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG I, BuG01_A_0420 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG01_A_0420.

Entspricht Druck:
BuG I, S. 344 (Ernst Grumach/Renate Grumach).

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