BuG:BuG I, A 404
Frankfurt/Darmstadt 14. 5. 1775

Dichtung und Wahrheit XVIII (WA I 29, 92)

Frankfurt, Darmstadt 14. 5. 1775

In wenigen Stunden sah ich mich mit meinen lustigen Gefährten in Darmstadt. Bei Hofe daselbst sollte man sich noch ganz schicklich betragen; hier hatte Graf Haugwitz eigentlich die Führung und Leitung. Er war der Jüngste von uns, wohlgestaltet, von zartem, edlem Ansehen, weichen freundlichen Zügen, sich immer gleich, theilnehmend, aber mit solchem Maße, daß er gegen die andern als impassibel abstach. Er mußte deßhalb von ihnen allerlei Spottreden und Benamsungen erdulden. Dieß mochte gelten, so lange sie glaubten als Naturkinder sich zeigen zu können; wo es aber denn doch auf Schicklichkeit ankam, und man, nicht ungern, genöthigt war, wieder einmal als Graf aufzutreten, da wußte er alles einzuleiten und zu schlichten, daß wir wenn nicht mit dem besten doch mit leidlichem Rufe davon kamen.

Ich brachte unterdessen meine Zeit bei Merck zu, welcher meine vorgenommene Reise mephistophelisch querblickend ansah und meine Gefährten, die ihn auch besucht hatten, mit schonungsloser Verständigkeit zu schildern wußte. Er kannte mich nach seiner Art durchaus, die unüberwindliche naive Gutmüthigkeit meines Wesens war ihm schmerzlich; das ewige Geltenlassen, das Leben und Lebenlassen war ihm ein Gräuel. Daß du mit diesen Burschen ziehst, rief er aus, ist ein dummer Streich; und er schilderte sie sodann treffend, aber nicht ganz richtig. Durchaus fehlte ein Wohlwollen, daher ich glauben konnte ihn zu übersehen, obschon ich ihn nicht sowohl übersah, als nur die Seiten zu schätzen wußte, die außer seinem Gesichtskreise lagen.

Du wirst nicht lange bei ihnen bleiben! das war das Resultat seiner Unterhaltungen. Dabei erinnere ich mich eines merkwürdigen Wortes, das er mir später wiederholte, das ich mir selbst wiederholte und oft im Leben bedeutend fand. Dein Bestreben, sagte er, deine unablenkbare Richtung ist, dem Wirklichen eine poetische Gestalt zu geben, die andern suchen das sogenannte Poetische, das Imaginative zu verwirklichen, und das gibt nichts wie dummes Zeug.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG I, BuG01_A_0404 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG01_A_0404.

Entspricht Druck:
BuG I, S. 333 f. (Ernst Grumach/Renate Grumach).

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