BuG:BuG I, A 395
Offenbach Frühjahr 1775

Dichtung und Wahrheit XVII (WA I 29, 42)

Offenbach Frühjahr 1775

Doch sollte bei eintretendem Frühling eine anständige ländliche Freiheit dergleichen Verhältnisse enger knüpfen. Offenbach am Main zeigte schon damals bedeutende Anfänge einer Stadt, die sich in der Folge zu bilden versprach. Schöne, für die damalige Zeit prächtige Gebäude hatten sich schon hervorgethan; Onkel Bernard, wie ich ihn gleich mit seinem Familientitel nennen will, bewohnte das größte; weitläufige Fabrikgebäude schlossen sich an; d’Orville, ein jüngerer lebhafter Mann von liebenswürdigen Eigenheiten, wohnte gegenüber. Anstoßende Gärten, Terrassen, bis an den Main reichend, überall freien Ausgang nach der holden Umgegend erlaubend, setzten den Eintretenden und Verweilenden in ein stattliches Behagen. Der Liebende konnte für seine Gefühle keinen erwünschteren Raum finden.

Ich wohnte bei Johann André ...

Lili’s Pianospiel fesselte unsern guten André vollkommen an unsre Gesellschaft; als unterrichtend, meisternd, ausführend, waren wenige Stunden des Tags und der Nacht, wo er nicht in das Familienwesen, in die gesellige Tagesreihe mit eingriff.

Bürgers Lenore, damals ganz frisch bekannt, und mit Enthusiasmus von den Deutschen aufgenommen, war von ihm componirt; er trug sie gern und wiederholt vor.

Auch ich, der viel und lebhaft recitirend vortrug, war sie zu declamiren bereit; man langweilte sich damals noch nicht an wiederholtem Einerlei. War der Gesellschaft die Wahl gelassen, welchen von uns beiden sie hören wolle, so fiel die Entscheidung oft zu meinen Gunsten.

Dieses alles aber, wie es auch sei, diente den Liebenden nur zur Verlängerung des Zusammenseins; sie wissen kein Ende zu finden, und der gute Johann André war durch wechselsweise Verführung der beiden gar leicht in ununterbrochene Bewegung zu setzen, um bis nach Mitternacht seine Musik wiederholend zu verlängern. Die beiden Liebenden versicherten sich dadurch einer werthen unentbehrlichen Gegenwart ...

Ein vielfacher geselliger Zudrang aus der Stadt konnte in dieser Jahreszeit nicht fehlen. Oft kam ich nur spät des Abends zur Gesellschaft, und fand sie [Lili] dem Scheine nach theilnehmend, und da ich nur oft auf wenige Stunden erschien, so mocht’ ich ihr gern in irgend etwas nützlich sein, indem ich ihr Größeres oder Kleineres besorgt hatte, oder irgend einen Auftrag zu übernehmen kam. Und es ist wohl diese Dienstschaft das Erfreulichste was einem Menschen begegnen kann; wie uns die alten Ritter-Romane dergleichen zwar auf eine dunkle, aber kräftige Weise zu überliefern verstehen. Daß sie mich beherrsche, war nicht zu verbergen, und sie durfte sich diesen Stolz gar wohl erlauben; hier triumphiren Überwinder und Überwundene, und beide behagen sich in gleichem Stolze.

Dieß mein wiederholtes, oft nur kurzes Einwirken war aber immer desto kräftiger. Johann André hatte immer Musik-Vorrath; auch ich brachte fremdes und eignes Neue; poetische und musikalische Blüthen regneten herab.

J. W. Appell, Überlieferung d. Familie André (Frankfurter Konversationsblatt 1847 Nr. 263 S. 1049)

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Offenbach Frühjahr 1775

Lili [Schönemann] hielt sich im Frühling des Jahres 1775 zu Zeiten in dem Landhause ihres Oheims Bernard zu Offenbach auf ... André, unerschöpflich in Gesängen und Schwänken zum Clavier, ließ sich dann oft bis der Nachtwächter die zwölfte Stunde abrief, von den Liebesleutchen an’s Clavier fesseln, wodurch sie sich eines längeren Beisammenseyns erfreuen konnten. Überhaupt wird noch mancher harmlose Zug aus dieser Periode von dem Dichter erzählt, der damals noch an der ganzen lyrischen Zerfahrenheit der Jugend litt.

Bei einer dämmernden Mondnacht hat er sich einst in weiße Lacken gehüllt und so auf hohen Stelzen in dem Städtchen herumschreitend – Goethe war nämlich in seiner Jugend ein sehr geübter Stelzengänger – vielen Leuten zu den Fenstern des ersten Stockwerkes hereingeschaut, daß Jene ein panischer Schreck befiel ob der langen, weißen, geisterhaften Gestalt. Ein anderes Mal, bei der Taufe des ... Hofraths Anton André, saß die ganze Gesellschaft bei dem Kindtaufschmause. Da tritt Göthe nach kurzer Entfernung mit einem verdeckten Gericht herein, das er schweigend auf den Tisch setzt. Und als man später die Serviette von der Platte hob, lag der kleine Täufling, sorgsam eingewickelt, darin.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG I, BuG01_A_0395 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG01_A_0395.

Entspricht Druck:
BuG I, S. 327 f. (Ernst Grumach/Renate Grumach).

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