BuG:BuG I, A 482
Heidelberg 30. 10./3. 11. 1775

Dichtung und Wahrheit XX (WA I 29, 186)

Heidelberg 30. 10./3. 11. 1775

Daß ich mich nach Heidelberg begab, dazu hatte ich mehrere Ursachen ... Demoiselle Delf nämlich, welche die Vertraute unserer Neigung, ja die Vermittlerin einer ernstlichen Verbindung bei den Eltern gewesen war, wohnte daselbst, und ich schätzte mir es für das größte Glück, ehe ich Deutschland verließ, noch einmal jene glücklichen Zeiten mit einer werthen geduldigen und nachsichtigen Freundin durchschwätzen zu können. Ich ward wohl empfangen und in manche Familie eingeführt, wie ich mir denn in dem Hause des Oberforstmeisters von W[rede] sehr wohlgefiel. Die Eltern waren anständig behagliche Personen, die eine Tochter ähnelte Friederiken. Es war gerade die Zeit der Weinlese, das Wetter schön und alle die elsassischen Gefühle lebten in dem schönen Rhein- und Neckar-Thale in mir wieder auf. Ich hatte diese Zeit an mir und andern Wunderliches erlebt, aber es war noch alles im Werden, kein Resultat des Lebens hatte sich in mir hervorgethan, und das Unendliche, was ich gewahrt hatte, verwirrte mich vielmehr. Aber in Gesellschaft war ich noch wie sonst, ja vielleicht gefälliger und unterhaltender. Hier unter diesem freien Himmel, unter den frohen Menschen suchte ich die alten Spiele wieder auf, die der Jugend immer neu und reizend bleiben. Eine frühere noch nicht erloschene Liebe im Herzen, erregte ich Antheil ohne es zu wollen, auch wenn ich sie verschwieg, und so ward ich auch in diesem Kreise bald einheimisch, ja nothwendig, und vergaß, daß ich nach ein paar verschwätzten Abenden meine Reise fortzusetzen den Plan hatte.

Demoiselle Delf war eine von den Personen, die ohne gerade intrigant zu sein, immer ein Geschäft haben, andere beschäftigen und bald diese bald jene Zwecke durchführen wollen. Sie hatte eine tüchtige Freundschaft zu mir gefaßt und konnte mich um so eher verleiten, länger zu verweilen, da ich in ihrem Hause wohnte, wo sie meinem Dableiben allerlei Vergnügliches vorhalten und meiner Abreise allerlei Hindernisse in den Weg legen konnte. Wenn ich das Gespräch auf Lili lenken wollte, war sie nicht so gefällig und theilnehmend wie ich gehofft hatte. Sie lobte vielmehr unsern beiderseitigen Vorsatz, uns unter den bewandten Umständen zu trennen, und behauptete, man müsse sich in das Unvermeidliche ergeben, das Unmögliche aus dem Sinne schlagen, und sich nach einem neuen Lebensinteresse umsehn. Planvoll, wie sie war, hatte sie dieß nicht dem Zufall überlassen wollen, sondern sich schon zu meinem künftigen Unterkommen einen Entwurf gebildet, aus dem ich nun wohl sah, daß ihre letzte Einladung nach Heidelberg nicht so absichtlos gewesen, als es schien.

Churfürst Karl Theodor nämlich, der für die Künste und Wissenschaften so viel gethan, residirte noch zu Mannheim, und gerade weil der Hof katholisch, das Land aber protestantisch war, so hatte die letztere Partei alle Ursache, sich durch rüstige und hoffnungsvolle Männer zu verstärken. Nun sollte ich in Gottes Namen nach Italien gehn und dort meine Einsichten in dem Kunstfach ausbilden, indessen wolle man für mich arbeiten, es werde sich bei meiner Rückkunft ausweisen, ob die aufkeimende Neigung der Fräulein von W[rede] gewachsen oder erloschen, und ob es räthlich sei durch die Verbindung mit einer angesehenen Familie mich und mein Glück in einem neuen Vaterlande zu begründen.

Dieses alles lehnte ich zwar nicht ab, allein mein planloses Wesen konnte sich mit der Planmäßigkeit meiner Freundin nicht ganz vereinigen; ich genoß das Wohlwollen des Augenblicks, Lili’s Bild schwebte mir wachend und träumend vor und mischte sich in alles andre, was mir hätte gefallen oder mich zerstreuen können. Nun rief ich mir aber den Ernst meines großen Reise-Unternehmens vor die Seele und beschloß auf eine sanfte und artige Weise mich loszulösen und in einigen Tagen meinen Weg weiter fortzusetzen.

Bis tief in die Nacht hinein hatte Demoiselle Delf mir ihre Plane und was man für mich zu thun Willens war, im Einzelnen dargestellt, und ich konnte nicht anders als dankbar solche Gesinnungen verehren, obgleich die Absicht eines gewissen Kreises, sich durch mich und meine mögliche Gunst bei Hofe zu verstärken, nicht ganz zu verkennen war. Wir trennten uns erst gegen Eins. Ich hatte nicht lange aber tief geschlafen, als das Horn eines Postillons mich weckte, der reitend vor dem Hause hielt. Bald darauf erschien Demoiselle Delf mit einem Licht und Brief in den Händen und trat vor mein Lager. Da haben wir’s! rief sie aus. Lesen Sie, sagen Sie mir was es ist. Gewiß kommt es von den Weimarischen. Ist es eine Einladung, so folgen Sie ihr nicht, und erinnern sich an unsre Gespräche. Ich bat sie um das Licht und um eine Viertelstunde Einsamkeit. Sie verließ mich ungern ... Die Staffette kam von Frankfurt, ich kannte Siegel und Hand; der Freund war also dort angekommen ...

Ich hatte mich indeß angezogen und ging in der Stube auf und ab. Meine ernste Wirthin trat herein. Was soll ich hoffen? rief sie aus. Meine Beste, sagte ich, reden Sie mir nichts ein, ich bin entschlossen zurückzukehren; die Gründe habe ich selbst bei mir abgewogen, sie zu wiederholen würde nichts fruchten. Der Entschluß am Ende muß gefaßt werden, und wer soll ihn fassen als der, den er zuletzt angeht?

Ich war bewegt, sie auch, und es gab eine heftige Scene, die ich dadurch endigte, daß ich meinem Burschen befahl Post zu bestellen. Vergebens bat ich meine Wirthin sich zu beruhigen und den scherzhaften Abschied, den ich gestern Abend bei der Gesellschaft genommen hatte, in einen wahren zu verwandeln, zu bedenken, daß es nur auf einen Besuch, auf eine Aufwartung für kurze Zeit angesehn sei, daß meine italiänische Reise nicht aufgehoben, meine Rückkehr hierher nicht abgeschnitten sei. Sie wollte von nichts wissen und beunruhigte den schon Bewegten noch immer mehr. Der Wagen stand vor der Thür; aufgepackt war; der Postillon ließ das gewöhnliche Zeichen der Ungeduld erschallen; ich riß mich los; sie wollte mich noch nicht fahren lassen, und brachte künstlich genug die Argumente der Gegenwart alle vor, so daß ich endlich leidenschaftlich und begeistert die Worte Egmonts ausrief:

„Kind, Kind! nicht weiter! Wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht, gehen die Sonnenpferde der Zeit mit unsers Schicksals leichtem Wagen durch, und uns bleibt nichts als, muthig gefaßt, die Zügel festzuhalten, und bald rechts, bald links, vom Steine hier, vom Sturze da, die Räder wegzulenken. Wohin es geht, wer weiß es? Erinnert er sich doch kaum, woher er kam.“

A. v. Arnim an Bettina Brentano 9. 11. 1808 (Aukt.-Kat. Henrici 149, 23)

Heidelberg 30. 10./3. 11. 1775

Die arme Schildkröte, sie hiess Mamsell Delphi ist weg gestorben ... Sie ist übrigens nie die Geliebte von Göthe gewesen, sondern bei einer kleinen Leidenschaft, die er hier für eine Stadtrichtertochter [Wrede] hatte, blos Vermittlerin gewesen, sie wird für einen Hermaphroditen gehalten.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG I, BuG01_A_0482 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG01_A_0482.

Entspricht Druck:
BuG I, S. 383 ff. (Ernst Grumach/Renate Grumach).

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