Briefe an Goethe: RA 1, Nr. 43
Von Jakob Michael Reinhold Lenz

Ende Januar oder Anfang Februar 1775, Straßburg

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   NachtSchwärmerey
Ach rausche rausche heiliger Wasserfall Rausche die Zeiten der Kindheit zurük in mein Gedächtnis Da ich noch nicht entwöhnt von deinen Brüsten Mutter Natur mit dankbar gefühliger Seele Dir im Schoos lag dich ganz empfand Schämst du dich Wange von jenen Flammen zu brennen Schämst du dich Auge, von jenen geheimen Zären Jenen süssen süssesten alle meiner Zären Wieder still befeuchtet zu werden? Nein so hab ich, so hab ich die Menschheit Noch in der wilden Schule der Menschen Nein so hab ich sie noch nicht verlernt. Kann gleich mein Geist mit mächtigeren Schwunge Unter die Sterne sich mischen die damals Nur als freundliche Funken mich ganz glüklich Ganz zum Engel lächelten. Aber itzt steh ich, nicht lallendes Kind mehr Itzt steh ich dar ein brennender Jüngling Blösse mein Haupt vor dem Unendlichen Der über meiner Scheitel euch dreht Denk ihn, opfr ihm in seinem Tempel All meine Wünsche mein ganzes Herz, Fühle sie ganz die grosse Bestimmung All diese Sterne durchzuwandern Zeuge dort seiner Macht zu seyn. O wenn wird er, wenn wird er der glüklichste der Tage Unter allen glüklichen meines Lebens Wenn bricht er an, da ich froher erwache Als ich itzt träume – o welch ein Gedanke | 2 | Gott! – noch froher als itzt! ists möglich Hast du soviel dem Menschen bereitet Immer froher – tausendmal tausend Einen nach dem andern durchwandern und – immer froher O da verstumm ich – und sink in Nichts Schaffe mir Adern du Allmächtiger dann! und Pulse Die dir erhitzter entgegen fliegen Und einen Geist der dich stärker umfaßt. Herr! meine Hofnung! wenn die letzte der Freuden Aus deiner Schaale ich hier gekostet Ach dann – wenn nun die Wiedererrinnrung Aller genossenen Erdenfreuden Unvermischt mit bittrer Sünde Wenn sie mich einmal noch ganz überströmt Und dann, plautz der Donner mir zu Füssen Diese zu enge Atmosphäre Mir zerbricht, mir Bahn öfnet, weiter – In deinen Schoos Unendlicher Ach wie will ich, wie will ich alsdenn dich Mit meinen Glaubensarmen umfassen Drüken an mein menschliches Herz Laß nur ach laß gnädig diesen Antheil von Erde Diese Seele von Erde mich unzerrüttet Ganz gesammlet dir darbringen zum Opfer Und dein Feuer verzehre sie. – Ach dann seht ihr mich nicht mehr theure Freunde Lieber Göthe! der Freunde erster Ach dann siehst du mich nicht mehr. | 3 | Aber ich sehe dich, mein Blick dringt Mit dem Strahl des Sterns zu dem ich eile Noch zum letztenmahl an dein Herz An dein edles Herz. – Albertine Du auch, die meiner Liebe Sayte Nie laut schallen hörtest, auch dich Auch dich seh ich, seegne dich – wär ich Dann ein Halbgott dich glüklich zu machen Die du durch all mein verzweiflungsvoll Bemühen Es nicht werden konntest – die du vielleicht es wardst Durch dich selbst – ach die du in Nacht mir Lange lange drey furchtbare Jahre Nun versunken bist – die ich nur ahnde – Euch mein Vater und Mutter – Geschwister Freunde Gespielen – fort zu vielfache Bande Reißt meine steigende Seele nicht wieder Nach der zu freundlichen Erde hinab. – Aber ich sehe dich dort meine Doris Oder bist du vielleicht – trüber Gedanke! Nein du bist nicht zurükgekehrt Nein ich sehe dich dort ich will in himmlischer Freundschaft Mit dir an andern Quellen und Büschen Sternenkind! ach wie wollen wir Kinder Hand in Hand dort spazieren gehn! – Aber Göthe – und Albertine – Nein ihr reißt mich zur Erde hinunter Grausame Liebe! ihr reißt mich hinunter. Reißt denn geliebte! reißt denn ich folge Reißt – und macht mir die Erde zum Himmel.


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   Hier mein Bruder ein Brief den
ich dir schicken muß, warm wie
er aus dem Herzen kommt. Dich
wird das Porto nicht dauren lieber
obschon kein Geschäft drinnen ist
ausser eine Commission von
Hafner der mich lange gebethen
hat. Ist doch uns kein höher
Glük auf der Erde gegönnt
als uns zu unterreden – mir
ists das höchste. Denn alle
meine Wirksamkeit ist für
andre – aber mein Gefühl für
Dich und einige Lieben ist für mich.
Warum giebst Du uns denn nicht
Neuigkeiten von Dir. Haben genug
in unsern Briefen itzt von meinen
Schmieralien gesprochen – nun laß
mich wieder ausgehn von dem kleinen
Dreckhauffen Ich und Dich – finden

    lenz

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   Ich habe viel in der Societät zu
überwinden, auf einer Seite ists Unglauben
Zerrüttetheit, vagues Geschnarch
von Bellitteratur wo nichts dahinter
ist als Nesselblüthen: auf der
andern steife leise Schneckenmoral-
philosophie die ihren grosmütterlichen
Gang fortkriecht, daß ich oft drüber
die Geduld verlieren möchte. Da konnte
Götz nicht durchdringen, der beydengleich
abspricht. Daher fieng ich an ut vates
den Leuten Standpunkt ihrer Religion
einzustecken, das itzt unter viel Schwürig-
keiten vollendt ist, die Erfolge wird
die Zeit lehren. Und nun stürm ich mit Ossians
Helden hinein das alte Erdengefühl in ihnen
aufzuwecken, das ganz in Französische Liqueurs
evaporirt war. Daß wirs ausführen können
was ich mit ganzer Seele strebe, auf Heyd
und Hügel deine Helden wieder naturalisiren


    Addio –


S: Staatsbibliothek zu Berlin  D: BrL Nr. 41  B: -  A: - 

Gedicht "Nachtschwärmerei". - Dich wird das Porto nicht dauern lieber ob schon kein Geschäft drinnen ist ausser eine Commission von I. Haffner. Ist doch uns kein höher Glück auf der Erde gegönnt als uns zu unterreden [...]. / Warum giebst du uns denn nicht Neuigkeiten von dir. - Über die Verhältnisse in der Société de Philosophie et de Belles-Lettres, wo "Götz" nicht habe durchdringen können und deretwegen L. auch seine Übersetzung "Ossian fürs Frauenzimmer" begonnen habe.

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 NachtSchwärmerey
Ach rausche rausche heiliger Wasserfall Rausche die Zeiten der Kindheit zurük in mein Gedächtnis Da ich noch nicht entwöhnt von deinen Brüsten Mutter Natur mit dankbar gefühliger Seele Dir im Schoos lag dich ganz empfand Schämst du dich Wange von jenen Flammen zu brennen Schämst du dich Auge, von jenen geheimen Zären Jenen süssen süssesten alle meiner Zären Wieder still befeuchtet zu werden? Nein so hab ich, so hab ich die Menschheit Noch in der wilden Schule der Menschen Nein so hab ich sie noch nicht verlernt. Kann gleich mein Geist mit mächtigeren Schwunge Unter die Sterne sich mischen die damals Nur als freundliche Funken mich ganz glüklich Ganz zum Engel lächelten. Aber itzt steh ich, nicht lallendes Kind mehr Itzt steh ich dar ein brennender Jüngling Blösse mein Haupt vor dem Unendlichen Der über meiner Scheitel euch dreht Denk ihn, opfr ihm in seinem Tempel All meine Wünsche mein ganzes Herz, Fühle sie ganz die grosse Bestimmung All diese Sterne durchzuwandern Zeuge dort seiner Macht zu seyn. O wenn wird er, wenn wird er der glüklichste der Tage Unter allen glüklichen meines Lebens Wenn bricht er an, da ich froher erwache Als ich itzt träume – o welch ein Gedanke| 2 | Gott! – noch froher als itzt! ists möglich Hast du soviel dem Menschen bereitet Immer froher – tausendmal tausend Einen nach dem andern durchwandern und – immer froher O da verstumm ich – und sink in Nichts Schaffe mir Adern du Allmächtiger dann! und Pulse Die dir erhitzter entgegen fliegen Und einen Geist der dich stärker umfaßt. Herr! meine Hofnung! wenn die letzte der Freuden Aus deiner Schaale ich hier gekostet Ach dann – wenn nun die Wiedererrinnrung Aller genossenen Erdenfreuden Unvermischt mit bittrer Sünde Wenn sie mich einmal noch ganz überströmt Und dann, plautz der Donner mir zu Füssen Diese zu enge Atmosphäre Mir zerbricht, mir Bahn öfnet, weiter – In deinen Schoos Unendlicher Ach wie will ich, wie will ich alsdenn dich Mit meinen Glaubensarmen umfassen Drüken an mein menschliches Herz Laß nur ach laß gnädig diesen Antheil von Erde Diese Seele von Erde mich unzerrüttet Ganz gesammlet dir darbringen zum Opfer Und dein Feuer verzehre sie. – Ach dann seht ihr mich nicht mehr theure Freunde Lieber Göthe! der Freunde erster Ach dann siehst du mich nicht mehr.| 3 | Aber ich sehe dich, mein Blick dringt Mit dem Strahl des Sterns zu dem ich eile Noch zum letztenmahl an dein Herz An dein edles Herz. – Albertine Du auch, die meiner Liebe Sayte Nie laut schallen hörtest, auch dich Auch dich seh ich, seegne dich – wär ich Dann ein Halbgott dich glüklich zu machen Die du durch all mein verzweiflungsvoll Bemühen Es nicht werden konntest – die du vielleicht es wardst Durch dich selbst – ach die du in Nacht mir Lange lange drey furchtbare Jahre Nun versunken bist – die ich nur ahnde – Euch mein Vater und Mutter – Geschwister Freunde Gespielen – fort zu vielfache Bande Reißt meine steigende Seele nicht wieder Nach der zu freundlichen Erde hinab. – Aber ich sehe dich dort meine Doris Oder bist du vielleicht – trüber Gedanke! Nein du bist nicht zurükgekehrt Nein ich sehe dich dort ich will in himmlischer Freundschaft Mit dir an andern Quellen und Büschen Sternenkind! ach wie wollen wir Kinder Hand in Hand dort spazieren gehn! – Aber Göthe – und Albertine – Nein ihr reißt mich zur Erde hinunter Grausame Liebe! ihr reißt mich hinunter. Reißt denn geliebte! reißt denn ich folge Reißt – und macht mir die Erde zum Himmel.

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  Hier mein Bruder ein Brief den ich dir schicken muß, warm wie er aus dem Herzen kommt. Dich wird das Porto nicht dauren lieber obschon kein Geschäft drinnen ist ausser eine Commission von Hafner der mich lange gebethen hat. Ist doch uns kein höher Glük auf der Erde gegönnt als uns zu unterreden – mir ists das höchste. Denn alle meine Wirksamkeit ist für andre – aber mein Gefühl für Dich und einige Lieben ist für mich. Warum giebst Du uns denn nicht Neuigkeiten von Dir. Haben genug in unsern Briefen itzt von meinen Schmieralien gesprochen – nun laß mich wieder ausgehn von dem kleinen Dreckhauffen Ich und Dich – finden

  lenz

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  Ich habe viel in der Societät zu überwinden, auf einer Seite ists Unglauben Zerrüttetheit, vagues Geschnarch von Bellitteratur wo nichts dahinter ist als Nesselblüthen: auf der andern steife leise Schneckenmoralphilosophie die ihren grosmütterlichen Gang fortkriecht, daß ich oft drüber die Geduld verlieren möchte. Da konnte Götz nicht durchdringen, der beydengleich abspricht. Daher fieng ich an ut vates den Leuten Standpunkt ihrer Religion einzustecken, das itzt unter viel Schwürigkeiten vollendt ist, die Erfolge wird die Zeit lehren. Und nun stürm ich mit Ossians Helden hinein das alte Erdengefühl in ihnen aufzuwecken, das ganz in Französische Liqueurs evaporirt war. Daß wirs ausführen können was ich mit ganzer Seele strebe, auf Heyd und Hügel deine Helden wieder naturalisiren


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Zitierhinweis

Online-Edition:
RA 1, Nr. 43, in: https://goethe-biographica.de/id/RA01_0043_00046.

Druck des Regests: RA 1, Nr. 43.

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