Briefe an Goethe: RA 1, Nr. 15
Von Johann Kaspar Lavater

19. November 1773, Zürich

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Stunden zähl' ich, bis – der Postwagen mir
den Mischmasch bringt. Sey sicher, Bruder,
daß ich das mißlungenste verstehen wer-
de – u: daß ich von der Sohle bis zum
Haupt ein Mensch bin, neben deßen
Physiognomie sich keine Menschenphy-
siognomie zuschämen hat.


Wenn WißenschaftWißenschaft wird, ist
nichts mehr dran. Einen Kuß auf die
Lippe, die dieß flüsterte – die Hand, die
es schrieb - u: die Stirn – nein, die Brust,
die ihn zeügte, diesen Gedanken – aber wir
sind Symbolen, u: unsere Worte u: Wer-
ke sind's mit uns. Laßt uns symbolisirℓ,
weil wir's müßen, so lang wir können –
übrigens wollen wir kein Ziel stecken.
Nur noch Eins – du, wahrlich, so gern ich
gebe, so gern empfang' ich von Freünden
– wenn im Packete, das ich erwarte, kein | 2 |
Christuskopf ist - │:Siehe, Bruder, mein
Glaub ist groß! mir sollte geschehen, wie
ich glaube.:│ – so erwart' ich mit erster Post
unfehlbar einen gelungenen, oder miß-
lungenen, von der Hand deßen, der wie
keine Seele aus meiner Seele herausgedacht,
in mein Herz hinein empfunden hat; von
der Hand, die nicht wahr? die ––– ​x x x
an x x x schrieb?


Crajonirte halbe, ganze, Viertel Entwürfe,
aber alle vom vermischtesten –
Versuche – bis auf den Leben athmenden Schatten des
Menschen; denn zankten sich alle drüber,
unser einziger Herr u: Gott ist – durch den
ich diese Buchstaben Linien auf dieß Pa-
pier – hingieße –


Goethe wird gewiß Schlötzern in einer Re-
zension
sagen, daß Herder nicht Schlötzer
ist!! Wär' ich Historiker, ich thät's.


Nun gute Nacht – der Wächter ruft zehn – | 3 |
O was ist, was ist das süße namenlose
Zittern, die melancholische Wollust, die Un-
sterblichkeits Ahndung in tiefe Todes-
Schauer gehüllt – die jeder Ruf des Nacht-
wächters über mein ganzes Wesen verbrei-
tet. Nun ruh' ich noch einen Augenblick
auf deinem Angesicht, an deiner Brust,
deinem Arm – sigle mit einem Kuß,
u: stehe auf.

   


   
    L.


S: Zentralbibliothek Zürich  D: Briefe HA Nr. 11  B: 1773 vor November 19 (vgl. RA 1, Nr. 15)  A: 1773 November vor 30 (vgl. RA 1, Nr. 16)  V: Abschrift 

L. erwarte sehnsüchtig G.s physiognomische Beiträge. - Begeisterte Zustimmung zu G.s Äußerung: Wenn Wißenschaft Wißenschaft wird, ist nichts mehr dran. - Er hoffe sehr auf einen Christuskopf von der Hand, die nicht wahr? die - XXX an XXX schrieb (? Anspielung auf G.s Verfasserschaft des "Briefes des Pastors"; vgl. RA 1, Nr. 10). - Zu A. L. Schlözers Antikritik auf Herders Kritik an dessen "Vorstellung seiner Universalhistorie": Goethe wird gewiß Schlötzern in einer Rezension sagen, daß Herder nicht Schlötzer ist!!

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 Stunden zähl' ich, bis – der Postwagen mir den Mischmasch bringt. Sey sicher, Bruder, daß ich das mißlungenste verstehen werde – u: daß ich von der Sohle bis zum Haupt ein Mensch bin, neben deßen Physiognomie sich keine Menschenphysiognomie zuschämen hat.

 Wenn WißenschaftWißenschaft wird, ist nichts mehr dran. Einen Kuß auf die Lippe, die dieß flüsterte – die Hand, die es schrieb - u: die Stirn – nein, die Brust, die ihn zeügte, diesen Gedanken – aber wir sind Symbolen, u: unsere Worte u: Werke sind's mit uns. Laßt uns symbolisirℓ, weil wir's müßen, so lang wir können – übrigens wollen wir kein Ziel stecken. Nur noch Eins – du, wahrlich, so gern ich gebe, so gern empfang' ich von Freünden – wenn im Packete, das ich erwarte, kein| 2 | Christuskopf ist - │:Siehe, Bruder, mein Glaub ist groß! mir sollte geschehen, wie ich glaube.:│ – so erwart' ich mit erster Post unfehlbar einen gelungenen, oder mißlungenen, von der Hand deßen, der wie keine Seele aus meiner Seele herausgedacht, in mein Herz hinein empfunden hat; von der Hand, die nicht wahr? die ––– ​x x x an x x x schrieb?

 Crajonirte halbe, ganze, Viertel Entwürfe, aber alle vom vermischtesten – Versuche – bis auf den Leben athmenden Schatten des Menschen; denn zankten sich alle drüber, unser einziger Herr u: Gott ist – durch den ich diese Buchstaben Linien auf dieß Papier – hingieße –

 Goethe wird gewiß Schlötzern in einer Rezension sagen, daß Herder nicht Schlötzer ist!! Wär' ich Historiker, ich thät's.

 Nun gute Nacht – der Wächter ruft zehn –| 3 | O was ist, was ist das süße namenlose Zittern, die melancholische Wollust, die Unsterblichkeits Ahndung in tiefe TodesSchauer gehüllt – die jeder Ruf des Nachtwächters über mein ganzes Wesen verbreitet. Nun ruh' ich noch einen Augenblick auf deinem Angesicht, an deiner Brust, deinem Arm – sigle mit einem Kuß, u: stehe auf.

   

    L.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
RA 1, Nr. 15, in: https://goethe-biographica.de/id/RA01_0015_00016.

Druck des Regests: RA 1, Nr. 15.

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