Tagebuch­eintrag: GT, Nr. 1
15. Juni 1775, Donnerstag

Den 15 Junius 1775. Donnerstags morgen aufm Zürchersee.1


Ohne Wein kan’s uns auf Erden Nimmer wie dreyhundert werden Ohne Wein u. ohne Weiber Hohl der Teufel unsre Leiber.

Wozu sind wohl Apollos Affen Als wie zu bouts rimés geschaffen Sie halten oft gleich einer Laus In Clios2 Haar u. Pomade Schmaus3.

Flieh Bruder G** Flieh! Er stößt mit seinem Horn Weich aus den B***sk, u. fürchte seinen Pinsel! Sein Mund ist abgrundreich, Sein Witz ist wie ein Dorn Erschaft des Lachens viel, u. doch noch mehr Gewinsel4

Dem Wolf dem thu’ ich Esel bohren Dadurch ist er gar bass geschoren Da sizt er nun das arme Schaaf Und fleht Erbarmung von dem Graf5.

Ein edles Mädchen Herz schlägt das nicht eine Wunde? Ein bitrer scharfer Wiz, beißt der nicht wie nur Hunde? Böse Laune, blödes staunen macht mich jez lahm Wiederstand u. lachen drüber aber zahm6

Unterm lieben Schweizer7 Himmel Ists nicht gut zu seyn ein Limmel8 Doch wie bös ist nicht die Luft? O die macht mich bald zum9 Schuft.10

Wolt soll Euch zeigen meinen Witz Möchts aber nehmen vor Grütz Drum will ihm lieber setzen11 Damm Ihr wißts ja so, bin ein gutes Lamm12

Herr Göthe sollt’ uns Juden mahlen und theologische Cabalen mit der geübten Mahlers-Hand Dies sey uns seines Geistes Pfand13!

Ein ieder der schreibet in dieses Buch, Mag zum Teufel schicken mit einem Fluch, Wenn ihn einer nicht will laßen Gahn Nach seinem Sin und Herzens Wahn.14

Ich15 saug an meiner Nabelschnur Nun Nahrung aus der Welt. Und herrlich rings ist die Natur die mich am Busen hält. Die Welle wieget unsern Kahn Im Rudertackt hinauf Und Berge Wolcken angethan Entgegnen unserm Lauf. Aug16 mein Aug was sinckst du nieder Goldne Träume kommt ihr wieder Weg du Traum so Gold du bist Hier auch Lieb und Leben ist. Auf der Welle blincken Tausend schwebenden Sterne Liebe Nebel trincken Rings die türmende Ferne Morgenwind umflügelt Die beschattetete17 Bucht Und im See bespiegelt Sich die reifende Frucht18

Vom Berge in die See Vid. das Privat Archiv des Dichters Lit. L.


Wenn19 ich liebe Lili dich nicht liebte Welche Wonne gab mir dieser Blick Und doch wenn ich Lili20 dich nicht liebt Wär! Was wär mein Glück.21

  1. Den bis Zürchersee. Lav ↑
  2. Thalias → Clios ↑
  3. die Strophe schrieb Friedrich Leopold zu Stolberg, die Reimwörter Goethe ¦ darunter waagerechter Strich ↑
  4. die Strophe schrieb Johann Caspar Lavater, die Reimwörter F. L. zu Stolberg ¦ darunter waagerechter Strich ↑
  5. die Strophe schrieb Christian zu Stolberg, die Reimwörter Lavater ¦ danach Rest des Blattes, ca zwei Zeilen, leer ↑
  6. die Strophe schrieb Schinz, die Reimwörter Ch. zu Stolberg ↑
  7. Zür → Schweizer  ↑
  8. erde → Limmel  ↑
  9. die Strophe schrieb Philipp Christoph Kayser, die Reimwörter Schinz ↑
  10. Wasser → Schuft  ↑
  11. nach setzen get: einen  ↑
  12. die Strophe schrieb Christian von Haugwitz, die Reimwörter Kayser ↑
  13. die Strophe schrieb Johann Jacob Heß, die Reimwörter Haugwitz ¦ danach Rest des Blattes, ca drei Zeilen, leer ↑
  14. die Strophe schrieb Jacob Ludwig Passavant, die Reimwörter Heß ↑
  15. darüber alR Doppelstrich ↑
  16. darüber alR Doppelstrich ↑
  17. gemeint beschattete  ↑
  18. danach Rest des Blattes, ca drei Zeilen, leer ↑
  19. darüber alR Doppelstrich ↑
  20. sie > ich Lili  ↑
  21. danach Rest des Blattes, ca drei Viertel, leer ↑

H: GSA 27/1


Das Tagebuch ist fast durchweg von Goethe eigenhändig geschrieben. Die Überschrift Den 15 Junius 1775. / Donnerstags morgen / aufm Zürchersee. (Bl 2 Vs) schrieb Johann Caspar Lavater, die Verfasser und Schreiber des zweiten bis neunten Vierzeilers (Bl 2 – Bl 3 Vs) sind Friedrich Leopold zu Stolberg, Lavater, Christian zu Stolberg, Lavaters Schwager Schinz, Philipp Christoph Kayser, Christian von Haugwitz, Johann Jacob Heß und Jacob Ludwig Passavant. Die Endreime der zweiten Strophe schrieb Goethe. Die Notiz Einer der herlichsten Waßerfälle der gantzen Gegend (Bl 12 Rs) schrieb Passavant. Die Eintragung Thallaman Caspar Antonj Meyer Drey König wird in Ursern an der Math. (Bl 16 Vs) schrieb Caspar Anton Meyer. (Zusätze von unbekannter Hand siehe unten.)

Die Eintragungen befinden sich in einem Heft (110 × 175 mm). Umschlag aus blaugrauem Kartonpapier. Auf dem vorderen Umschlagblatt von Riemers Hand die Überschrift »Tagebuch. Schweizerreise 1775.«. Die Blätter aus Konzeptpapier. Fadenheftung.

Blätter insgesamt (einschließlich des vorderen und hinteren Umschlagblattes): 16

Beschriebene Blätter: 10


Ein nachträglich eingelegtes, wohl um 1813, in Vorbereitung des Achtzehnten Buches von »Dichtung und Wahrheit«, von Goethe eigenhändig quer beschriebenes Blatt (110 × 90 mm), geripptes Schreibpapier. Tinte.

Vs: Liegende Akkolade, darunter: Speranza – dass die fremden Hunde die sich hier verlauffen ein Küssen finden. Von unbekannter Hand rechts oben mit Bleistift »23«.

Rs: (seitenverkehrt:) Der Frau


Schreibmaterial und Zusätze von unbekannter Hand:

Bleistift. Mit Tinte das Gedicht »Gib das tagwerck ...«.

Von Goethe mit Bleistift schräg, zum Teil kreuzweise durchgestrichen die chronologischen Eintragungen vom 16. bis 22. Juni 1775 und die Eintragung Speranza bis verlohren sind.

Die Blätter, einschließlich des vorderen und hinteren Umschlagblattes, von unbekannter Hand mit Bleistift paginiert jeweils Vorderseite rechts oben, die Rückseite der Blätter 11–15 zusätzlich links unten seitenverkehrt paginiert von »11​2« bis »15​2«.


Anordnung und Zählung der Handschrift:

Bl 1 Umschlagblatt

Bl 2 Vs: Überschrift: Den 15 Junius 1775. bis aufm Zürchersee.

Reimstrophe 1–4

Bl 2 Rs: Reimstrophe 5–8

Bl 3 Vs: Reimstrophe 9

Gedicht: »Ich saug an meiner Nabelschnur ...«

Gedicht: »Aug mein Aug was sinckst du nieder ...«

Bl 3 Rs: Gedicht: »Vom Berge in die See Vid. das Privat Archiv des Dichters Lit. L.«

Bl 4 Vs: Notiz: am Steeg bis Capele

Bl 4 Rs: Entwurf (quer geschrieben:) Und dem entgegnenden Priest bis erheitern

Bl 5–7 Vs leer

Bl 7 Rs: Gedicht: »Gib das tagwerck ...«

Bl 8–11 Vs leer

Bl 11 Rs: Notiz (seitenverkehrt geschrieben): Speranza bis verlohren sind

Bl 12 Vs leer

Bl 12 Rs–14 Vs (seitenverkehrt beschrieben von hinten nach vorn)

Bl 14 Rs–13 Vs: Tgb-Eintr 16.–21. Juni 1775: d 16. Abends bis Projeckte.

Bl 12 Rs: Tgb-Eintr 21.–22. Juni 1775: ab 35 Min auf 4. bis s-st. D.

Bl 15 Vs–15 Rs (seitenverkehrt quer beschrieben)

Bl 15 Rs: Entwürfe. Notizen: Doch mir stehn fest bis alber zu stellen

Bl 15 Vs: Entwürfe. Notizen. Bruchstücke: Und die ewig verderblihe bis sein selbst willen

Bl 16 Vs (Innenseite des hinteren Umschlagblattes): Eintragung: Thallaman Caspar Antonj Meyer bis Schiling


D:

WA III 1, 1–7, udT: Schweiz 1775.

Den 15 Junius 1775 bis aufm Zürchersee] Abreise Goethes von Frankfurt am 14. Mai 1775 mit Christian August Heinrich von Haugwitz, Christian und Friedrich Leopold zu Stolberg. Die Reiseroute führte über Darmstadt, Mannheim, Heidelberg, Karlsruhe und Straßburg in die Schweiz. In Zürich schlossen sich der Reisegesellschaft Jacob Ludwig Passavant und Philipp Christoph Kayser an. Übersicht über die einzelnen Stationen der Reise bei Alfred Zastrau: Goethe-Handbuch. Bd 4. Zweite Auflage, Stuttgart 1956, S. 12. Siehe Friedrich Leopold zu Stolberg an Henriette von Bernstorff, 16. Juni 1775 (BG 1, 344; GG, Nr 266): »Donnerstag früh ⟨15. Juni⟩ machten wir uns auf und gingen zum See 〈…〉, da kam denn auch das Boot aus der Stadt, darin waren Lavater, Heß, der das Leben Jesu geschrieben hat; sein Schwager, ein herrlicher junger Mann ⟨Schinz⟩, Göthe und zwei Frankfurter, recht gute Leute ⟨Kayser, Passavant⟩. Wir ließen uns zwei Stunden weit auf dem See rudern 〈…〉.« Siehe »Dichtung und Wahrheit«, Achtzehntes Buch (DuW 1, 609; WA I 29, 111): Wir 〈…〉 fuhren an einem glänzenden Morgen den herrlichen See hinauf.

Ohne Wein bis unsre Leiber] Mit dem ersten Vierzeiler eröffnete Goethe die bouts-rimés (siehe die vierte Erläuterung zu 15. Juni 1775), die folgenden acht Vierzeiler schrieben Friedrich Leopold zu Stolberg, Lavater, Christian zu Stolberg, Schinz, Philipp Christoph Kayser, Christian von Haugwitz, Johann Jacob Heß, Jacob Ludwig Passavant.

dreyhundert] Vgl »Faust. In ursprünglicher Gestalt«, Szene »Auerbachs Keller in Leipzig« (WA I 39, 248): Uns ist gar kannibalisch wohl / Als wie fünfhundert Säuen.

bouts rimés] Endreime; ein Gesellschaftsspiel, bei dem die Aufgabe gestellt wird, aus vorgegebenen Endreimen eine vollständige Strophe zu machen. Vgl Johann Caspar Lavaters Tagebuch, 18. Juli 1774 (GG, Nr 180): »In einem wohl besetzten Schiff auf der Lahne – wo 〈…〉 Goethe Reimendungen für die Gesellschaft schreibt 〈…〉, hier einer einen prosaischen Gedanken in Versen oder einen poetischen in Prosa in ein Papierchen hinschreibt 〈…〉

Er] Satan.

B***sk] Wohl gemeint: Basilisk.

Esel bohren] Redensartliche Wendung, gemeint: verspotten (GWb 3, Sp 462).

Graf] Christian zu Stolberg.

Herr Göthe sollt’ uns Juden mahlen] Anspielung auf Goethes Versepos »Der ewige Jude« (WA I 38, 53–64); entstanden 1774, ED in: Poetische und prosaische Werke in zwei Bänden. Erster Band, erste Abteilung, Stuttgart und Tübingen 1836, S. 145–147.

Ich saug bis Entgegnen unserm Lauf] Entstanden 1775, ED in veränderter Gestalt unter dem Titel »Auf dem See« (WA I 1, 78) in: Schriften. Bd 8, Leipzig 1789, S. 144–145. Vgl »Dichtung und Wahrheit«, Achtzehntes Buch (DuW 1, 609; WA I 29, 111).

Aug mein Aug bis die reifende Frucht] Entstanden 1775, ED des ursprünglich wohl selbständigen Gedichts als Strophe 2 des Gedichts »Auf dem See« (WA I 1, 78) in: Schriften. Bd 8, Leipzig 1789, S. 144–145. Vgl »Dichtung und Wahrheit«, Achtzehntes Buch (DuW 1, 609; WA I 29, 111).

Vom Berge in die See bis mein Glück] Entstanden 1775, ED in veränderter Gestalt unter dem Titel »Vom Berge« (WA I 1, 79) in: Schriften. Bd 8, Leipzig 1789, S. 145. Vgl »Dichtung und Wahrheit«, Achtzehntes Buch (DuW 1, 610; WA I 29, 112).

Vom Berge in die See] Siehe »Dichtung und Wahrheit«, Achtzehntes Buch (DuW 1, 610; WA I 29, 111–112): Wir landeten in Richters Weyher ⟨Richterswyl⟩, wo wir an Doctor Hotze ⟨Johannes Hotz⟩ durch Lavater empfohlen waren. 〈…〉 Aufs beste bewirthet aufs anmuthigste und nützlichste 〈…〉 unterhalten, bestiegen wir die dahinter liegenden Berge. Als wir in das Thal von Schindelegge wieder hinabsteigen sollten, kehrten wir uns nochmals um, die entzükkende Aussicht über den Zürcher See in uns aufzunehmen.

Vid.] Vide: siehe.

Lit. L.] Littera L.: Buchstabe L.; Aufzeichnung zu L(ili).

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GT I, 15.6.1775 (Wolfgang Albrecht/Andreas Döhler), in: https://goethe-biographica.de/id/GT01_0001.

Entspricht Druck:
Text: GT I 1, S. 3–5 (Wolfgang Albrecht/Andreas Döhler), Stuttgart 1998.
Kommentar: GT I 2, S. 377 (Wolfgang Albrecht/Andreas Döhler), Stuttgart 1998.

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