Goethes Briefe: GB 2, Nr. 112
An Johann Caspar Lavater

Frankfurt a. M. , 20. Mai 1774. Freitag → 〈Zürich〉

〈Susanna Catharina von Klettenberg an Lavater〉


ER! Der weiter keinen Nahmen braucht, hat mich einst in einer Seeligen Stunde Versichert: daß Er mir immer viel mehr geben wolte als ich vermuthen könte, unbeschreibl: hat Er bisher sein Versprechen erfült.

 Die Brüderliche Verbindung und bekantschafft mit Lavater ist eins von diesen Geschencke und ein noch größers, das nicht ausbleiben kan – wird die Nahmenlose Freude seyn einst aus dieses Bruders Munde die erklärung zu hören: nicht weill du es sagst – sondern weill ich es erfahre – Glaube ich daß Gott in Christus ist.

 Er wandelt mit Lavater und mit Goethe – ich kenne Ihn am Gang, noch werden Ihre Augen gehalten daß Sie Ihn nicht ​erkennen Aber; ein etwas – ein sanffter Zug – eine Empfindung – die alle Empfindungen übertrifft, so lebhafft diese beyde sonst – / fühlen können, macht daß sie sich von dem Unbekanten nicht trennen mögen.

 Entfernt Er sich manchmahlen, oder Ihr euch viel mehr von Ihm, so ruft Ihn doch gleich – sehnlich zurück – ruft Ihn auch in abwege die eben nicht die schönste sind, Er komt doch. Er ist nicht zu zärtlich auch durch die Hecken zu brechen.

Sie! Lieber Bruder hier zu sehen, wird eben fals eines ​Seiner die erwartung übertrefendes Geschenck seyn; Aber; Strafe – Plage – und Kummer wäre vor mich jede zärtliche Freundschafftliche Verbindung, wann die gewißheit nicht mit verknüpft wäre daß sie Ewig dauren solte –. Ja wir werden Ihn und unß bei ​Ihm, ewig schauen erneuet, und viel lebhaffter als jezo leben und Lieben. ​Goethe besorgt / den Schatten-riß – drey mahl bin ich Gemahlt drey mahl gezeichnet – und nie getroffen worden, ich will gerne sehen was Sie gelbts Gott: diesen Sommer, bei Vergleichung des ​Originals mit den Schatten riß sagen werden. Vielen Herzl: Danck vor die Gedruckte Blätgen ​Der! deß Blut der ​Golga ​tha auftranck, Seegne Sie mit Seinem besten Seegen – ​der ist vor ​mein Herz, der eneuete gefühl volle Eindruck, daß Er Mensch war – als Mensch stürbe, noch Mensch ist – und ich so gewis seyn werde was u wo Er ist als Er war was und wo ich bin

​Ffurt am 20 ​may 1774

〈Nachschrift Goethes〉


Hier ist ihr Bild das ich gemacht habe, und das ihr gleicht wie eine Schwester der andern. Es ist die Famielie, sie selbst ist's nicht.

Im Schatten riss bezeichnet sich diese himmlische ​1 Seele ​2 noch weniger.

Sie wird dir wenn du kommst mehr seyn als ich, u. ob ​3 sie mir gleich so viel ​4 ist als dir; so binn ich doch in meinem schwärmenden Unglauben, der ​Ich ​5! Und wie ich binn, dein Bruder.

​Herkules Geschwäzze ist warrlich nicht ​mein Gefühl. Es ist nur dass man die Hansen bey der Perrücke zupft und Sachen sagt, die wie Du sprichst, ​6 niemand Wort haben will.

  1. himmli×​sche​ ↑
  2. s​Seele​ ↑
  3. ⎡u.⎤ ××​ob​ ↑
  4. ×​viel​ ↑
  5. i​I​ch​ ↑
  6. sprichst.​,​ ↑

Datierung nach dem Brief Susanna von Klettenbergs an Lavater..

H: UB Leipzig, Slg Hirzel, Sign.: B 28. – Doppelblatt 11,5 × 18,8 cm, 4 S. beschr. (S. 1–3: Susanna von Klettenbergs Brief; S. 4: Goethes Nachschrift), egh., Tinte.

E​1: Hirzel, Goethe-Bibliothek 1874, 179 (Incipit der Nachschrift Goethes: 88,33–34 Hier 〈…〉 andern.)

E​2: DjG​1 3 (1875), 19 f. (Susanna von Klettenbergs Brief ebd., 18 f.).

WA IV 2 (1887), 161 f., Nr 220 (Susanna von Klettenbergs Brief ebd., 160 f.).

Porträtzeichnung Susanna von Klettenbergs von Goethes Hand (vgl. zu 88,33).

Der Brief beantwortet Lavaters Brief vom 11. Mai 1774 (vgl. RA 1, 56, Nr 27; Goethe-Lavater​3, 30–32, Nr 19) sowie den an Goethe und Susanna von Klettenberg gemeinsam gerichteten Brief vom 14. Mai 1774 (vgl. RA 1, 56, Nr 28; Goethe-Lavater​3, 32 f., Nr 20). – Ein Antwortbrief ist nicht bekannt. In Nr 117 erwähnt Goethe lediglich einen nicht überlieferten Brief Lavaters, in dem dieser seine Ankunft in Frankfurt ankündigt.

Sie! Lieber Bruder hier zu sehen] Susanna von Klettenberg, die Lavater in seinem Tagebuch als „eine 50järige adeliche Dame – fein organisiert, nichts weniger als schön“ (Goethe-Lavater​3, 282) charakterisiert, lernte dieser am 24. Juni in Frankfurt kennen und vertiefte sich noch am selben Tag in ausführliche religiöse Gespräche mit ihr. Auch in den folgenden Tagen trafen beide zusammen (vgl. ebd., 286 und 288–290). Zuvor schon hatte Lavater sie „eine himmlische Seele“ genannt, „Goethe's Freündinn, die sich ​Cordata unterschreibt, u: der Sabbath meiner Reise 〈nach Deutschland〉 ist – o Bruder! welche Seelen giebts!“ (Brief an Herder, 7. Juni 1774; H: GSA 44/68; vgl. auch Aus Herders Nachlaß 2, 107.) – Zur Vermittlung der Bekanntschaft zwischen Lavater und Susanna von Klettenberg vgl. auch GB 1 II, einleitende Erläuterung zu Nr 74.

Schatten-riß] Um die Silhouette Susanna von Klettenbergs hatte Lavater am 14. Mai gebeten (vgl. Goethe-Lavater​3, 32); sie ist nicht bekannt.

gelbts Gott] Geliebts Gott.

Gedruckte Blätgen] Nicht ermittelt.

Cordata] Lat.: die Verständige (nach lat. cor: Herz, Verstand). – So nannte sich Susanna von Klettenberg selbst.

ihr Bild] Die Porträtzeichnung Susanna von Klettenbergs ist nicht überliefert; vielleicht ist diejenige gemeint, von deren Entstehung Goethe zu Beginn des 15. Buchs von „Dichtung und Wahrheit“ berichtet (vgl. AA DuW 1, 521).

wenn du kommst] Lavater hatte seinen Besuch am 11. Mai angekündigt. Er traf am 23. Juni in Frankfurt ein; vgl. sein Tagebuch (Goethe-Lavater​3, 281).

​Herkules Geschwäzze] Goethe meint seine eigene Farce „Götter Helden und Wieland“.

die Hansen] Im Brief an Johann Christian und Charlotte Kestner vom 15. September 1773 (Nr 54) bezeichnet Goethe Wieland und die Brüder Jacobi als den Hans und die Hänsgen (42,4).

wie Du sprichst] Ein entsprechender Brief Lavaters ist nicht überliefert.

​niemand Wort haben will] Etwas nicht Wort haben wollen: etwas nicht zugeben wollen (vgl. GWb 4, 606).

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 112 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR112_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 88–89, Nr 112 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 243–244, Nr 112 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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