BuG:BuG I, A 55
Leipzig Ende Apr. 1766

Dichtung und Wahrheit VII (WA I 27, 85)

Leipzig Ende Apr. 1766

Schlosser wollte nicht Leipzig verlassen, ohne die Männer, welche Namen hatten, von Angesicht zu Angesicht gesehen zu haben. Ich führte ihn gern zu denen mir bekannten; die von mir noch nicht besuchten lernte ich auf diese Weise ehrenvoll kennen, weil er als ein unterrichteter, schon charakterisirter Mann mit Auszeichnung empfangen wurde und den Aufwand des Gesprächs recht gut zu bestreiten wußte. Unsern Besuch bei Gottsched darf ich nicht übergehen, indem die Sinnes- und Sittenweise dieses Mannes daraus hervortritt. Er wohnte sehr anständig in dem ersten Stock des goldenen Bären, wo ihm der ältere Breitkopf, wegen des großen Vortheils, den die Gottschedischen Schriften, Übersetzungen und sonstigen Assistenzen der Handlung gebracht, eine lebenslängliche Wohnung zugesagt hatte.

Wir ließen uns melden. Der Bediente führte uns in ein großes Zimmer, indem er sagte, der Herr werde gleich kommen. Ob wir nun eine Gebärde, die er machte, nicht recht verstanden, wüßte ich nicht zu sagen; genug wir glaubten, er habe uns in das anstoßende Zimmer gewiesen. Wir traten hinein zu einer sonderbaren Scene: denn in dem Augenblick trat Gottsched, der große, breite, riesenhafte Mann, in einem gründamastnen, mit rothem Tafft gefütterten Schlafrock zur entgegengesetzten Thür herein; aber sein ungeheures Haupt war kahl und ohne Bedeckung. Dafür sollte jedoch sogleich gesorgt sein: denn der Bediente sprang mit einer großen Allongeperrücke auf der Hand (die Locken fielen bis an den Ellenbogen) zu einer Seitenthüre herein und reichte den Hauptschmuck seinem Herrn mit erschrockner Gebärde. Gottsched, ohne den mindesten Verdruß zu äußern, hob mit der linken Hand die Perrücke von dem Arme des Dieners, und indem er sie sehr geschickt auf den Kopf schwang, gab er mit seiner rechten Tatze dem armen Menschen eine Ohrfeige, so daß dieser, wie es im Lustspiel zu geschehen pflegt, sich zur Thür hinaus wirbelte, worauf der ansehnliche Altvater uns ganz gravitätisch zu sitzen nöthigte und einen ziemlich langen Discurs mit gutem Anstand durchführte.

Dichtung und Wahrheit VII (WA I 27, 87)

Leipzig Ende Apr. 1766

So lange Schlosser in Leipzig blieb, speis’te ich täglich mit ihm, und lernte eine sehr angenehme Tischgesellschaft kennen. Einige Lievländer [Johann Georg u. Heinrich Wilhelm von Olderogge, Gustav v. Bergmann u. a.] und der Sohn des Oberhofpredigers Herrmann in Dresden [Christian Gottfried H.], nachheriger Burgemeister in Leipzig, und ihre Hofmeister, Hofrath Pfeil, Verfasser des Grafen von P., eines Pendants zu Gellerts Schwedischer Gräfin, [Georg Ludwig Friedrich] Zachariä, ein Bruder des Dichters, und [Gottlob Friedrich] Krebel, Redacteur geographischer und genealogischer Handbücher, waren gesittete, heitere und freundliche Menschen. Zachariä der stillste; Pfeil ein feiner, beinahe etwas Diplomatisches an sich habender Mann, doch ohne Ziererei und mit großer Gutmüthigkeit; Krebel ein wahrer Fallstaff, groß, wohlbeleibt, blond, vorliegende, heitere, himmelhelle Augen, immer froh und guter Dinge. Diese Personen begegneten mir sämmtlich, theils wegen Schlossers, theils auch wegen meiner eignen offenen Gutmüthigkeit und Zuthätigkeit, auf das allerartigste, und es brauchte kein großes Zureden, künftig mit ihnen den Tisch zu theilen. Ich blieb wirklich nach Schlossers Abreise bei ihnen, gab den Ludwigischen Tisch auf, und befand mich in dieser geschlossenen Gesellschaft um so wohler, als mir die Tochter vom Hause [Anna Katharina Schönkopf], ein gar hübsches nettes Mädchen, sehr wohl gefiel, und mir Gelegenheit ward freundliche Blicke zu wechseln, ein Behagen, das ich seit dem Unfall mit Gretchen weder gesucht noch zufällig gefunden hatte. Die Stunden des Mittagessens brachte ich mit meinen Freunden heiter und nützlich zu. Krebel hatte mich wirklich lieb und wußte mich mit Maßen zu necken und anzuregen: Pfeil hingegen bewies mir eine ernste Neigung, indem er mein Urtheil über manches zu leiten und zu bestimmen suchte.

Bei diesem Umgange wurde ich durch Gespräche, durch Beispiele und durch eigenes Nachdenken gewahr, daß der erste Schritt, um aus der wässerigen, weitschweifigen, nullen Epoche sich herauszuretten, nur durch Bestimmtheit, Präcision und Kürze gethan werden könne. Bei dem bisherigen Stil konnte man das Gemeine nicht vom Besseren unterscheiden, weil alles unter einander in’s Flache gezogen ward.

Dichtung und Wahrheit VII (WA I 27, 131)

Leipzig Ende Apr. 1766

Wie mich nun die Einwohner von Leipzig um das angenehme Gefühl brachten, einen großen Mann zu verehren, so verminderte ein neuer Freund, den ich zu der Zeit gewann, gar sehr die Achtung, welche ich für meine gegenwärtigen Mitbürger hegte. Dieser Freund war einer der wunderlichsten Käuze, die es auf der Welt geben kann. Er hieß Behrisch und befand sich als Hofmeister bei dem jungen Grafen Lindenau ... Mir war er sehr gewogen, und ich, der ich immer gewohnt und geneigt war mit ältern Personen umzugehen, attachirte mich bald an ihn. Mein Umgang diente auch ihm zur besondern Unterhaltung, indem er Vergnügen daran fand, meine Unruhe und Ungeduld zu zähmen, womit ich ihm dagegen auch genug zu schaffen machte. In der Dichtkunst hatte er dasjenige, was man Geschmack nannte, ein gewisses allgemeines Urtheil über das Gute und Schlechte, das Mittelmäßige und Zulässige; doch war sein Urtheil mehr tadelnd, und er zerstörte noch den wenigen Glauben, den ich an gleichzeitige Schriftsteller bei mir hegte, durch lieblose Anmerkungen, die er über die Schriften und Gedichte dieses und jenes mit Witz und Laune vorzubringen wußte. Meine eigenen Sachen nahm er mit Nachsicht auf und ließ mich gewähren; nur unter der Bedingung, daß ich nichts sollte drucken lassen. Er versprach mir dagegen, daß er diejenigen Stücke, die er für gut hielt, selbst abschreiben und in einem schönen Bande mir verehren wolle. Dieses Unternehmen gab nun Gelegenheit zu dem größtmöglichsten Zeitverderb. Denn ehe er das rechte Papier finden, ehe er mit sich über das Format einig werden konnte, ehe er die Breite des Randes und die innere Form der Schrift bestimmt hatte, ehe die Rabenfedern herbeigeschafft, geschnitten und Tusche eingerieben war, vergingen ganze Wochen, ohne daß auch das Mindeste geschehen wäre. Mit eben solchen Umständen begab er sich denn jedesmal an’s Schreiben, und brachte wirklich nach und nach ein allerliebstes Manuscript zusammen. Die Titel der Gedichte waren Fractur, die Verse selbst von einer stehenden sächsischen Handschrift, an dem Ende eines jeden Gedichtes eine analoge Vignette, die er entweder irgendwo ausgewählt oder auch wohl selbst erfunden hatte, wobei er die Schraffuren der Holzschnitte und Druckerstöcke, die man bei solcher Gelegenheit braucht, gar zierlich nachzuahmen wußte. Mir diese Dinge, indem er fortrückte, vorzuzeigen, mir das Glück auf eine komisch-pathetische Weise vorzurühmen, daß ich mich in so vortrefflicher Handschrift verewigt sah, und zwar auf eine Art, die keine Druckerpresse zu erreichen im Stande sei, gab abermals Veranlassung, die schönsten Stunden durchzubringen. Indessen war sein Umgang wegen der schönen Kenntnisse, die er besaß, doch immer im Stillen lehrreich, und, weil er mein unruhiges heftiges Wesen zu dämpfen wußte, auch im sittlichen Sinne für mich ganz heilsam. Auch hatte er einen ganz besonderen Widerwillen gegen alles Rohe, und seine Späße waren durchaus barock, ohne jemals in’s Derbe oder Triviale zu fallen. Gegen seine Landsleute erlaubte er sich eine fratzenhafte Abneigung, und schilderte was sie auch vornehmen mochten, mit lustigen Zügen. Besonders war er unerschöpflich, einzelne Menschen komisch darzustellen; wie er denn an dem Äußeren eines jeden etwas auszusetzen fand. So konnte er sich, wenn wir zusammen am Fenster lagen, Stunden lang beschäftigen, die Vorübergehenden zu recensiren und, wenn er genugsam an ihnen getadelt, genau und umständlich anzuzeigen, wie sie sich eigentlich hätten kleiden sollen, wie sie gehen, wie sie sich betragen müßten, um als ordentliche Leute zu erscheinen. Dergleichen Vorschläge liefen meistentheils auf etwas Ungehöriges und Abgeschmacktes hinaus, so daß man nicht sowohl lachte über das, wie der Mensch aussah, sondern darüber, wie er allenfalls hätte aussehen können, wenn er verrückt genug gewesen wäre, sich zu verbilden. In allen solchen Dingen ging er ganz unbarmherzig zu Werk, ohne daß er nur im mindesten boshaft gewesen wäre. Dagegen wußten wir ihn von unserer Seite zu quälen, wenn wir versicherten, daß man ihn nach seinem Äußeren wo nicht für einen französischen Tanzmeister, doch wenigstens für den akademischen Sprachmeister ansehen müsse. Dieser Vorwurf war denn gewöhnlich das Signal zu stundenlangen Abhandlungen, worin er den himmelweiten Unterschied herauszusetzen pflegte, der zwischen ihm und einem alten Franzosen obwalte. Hierbei bürdete er uns gewöhnlich allerlei ungeschickte Vorschläge auf, die wir ihm zur Veränderung und Modificirung seiner Garderobe hätten thun können.

Die Richtung meines Dichtens, das ich nur um desto eifriger trieb, als die Abschrift schöner und sorgfältiger vorrückte, neigte sich nunmehr gänzlich zum Natürlichen, zum Wahren; und wenn die Gegenstände auch nicht immer bedeutend sein konnten, so suchte ich sie doch immer rein und scharf auszudrücken, um so mehr als mein Freund mir öfters zu bedenken gab, was das heißen wolle, einen Vers mit der Rabenfeder und Tusche auf holländisch Papier schreiben, was dazu für Zeit, Talent und Anstrengung gehöre, die man an nichts Leeres und Überflüssiges verschwenden dürfe. Dabei pflegte er gewöhnlich ein fertiges Heft aufzuschlagen und umständlich auseinander zu setzen, was an dieser oder jener Stelle nicht stehen dürfe, und uns glücklich zu preisen, daß es wirklich nicht da stehe. Er sprach hierauf mit großer Verachtung von der Buchdruckerei, agirte den Setzer, spottete über dessen Gebärden, über das eilige Hin- und Wiedergreifen, und leitete aus diesem Manoeuvre alles Unglück der Literatur her. Dagegen erhob er den Anstand und die edle Stellung eines Schreibenden, und setzte sich sogleich hin, um sie uns vorzuzeigen, wobei er uns denn freilich ausschalt, daß wir uns nicht nach seinem Beispiel und Muster eben so am Schreibtisch betrügen. Nun kam er wieder auf den Contrast mit dem Setzer zurück, kehrte einen angefangenen Brief das Oberste zu unterst, und zeigte wie unanständig es sei, etwa von unten nach oben, oder von der Rechten zur Linken zu schreiben, und was dergleichen Dinge mehr waren, womit man ganze Bände anfüllen könnte.

Mit solchen unschädlichen Thorheiten vergeudeten wir die schöne Zeit, wobei keinem eingefallen wäre, daß aus unserm Kreis zufällig etwas ausgehen würde, welches allgemeine Sensation erregen und uns nicht in den besten Leumund bringen sollte.

Dichtung und Wahrheit VII (WA I 27, 110)

Leipzig Ende Apr. 1766

Meine frühere Neigung zu Gretchen hatte ich nun auf ein Ännchen übergetragen, von der ich nicht mehr zu sagen wüßte als daß sie jung, hübsch, munter, liebevoll und so angenehm war, daß sie wohl verdiente, in dem Schrein des Herzens eine Zeit lang als eine kleine Heilige aufgestellt zu werden, um ihr jede Verehrung zu widmen, welche zu ertheilen oft mehr Behagen erregt als zu empfangen. Ich sah sie täglich ohne Hindernisse, sie half die Speisen bereiten, die ich genoß, sie brachte mir wenigstens Abends den Wein, den ich trank, und schon unsere mittägige abgeschlossene Tischgesellschaft war Bürge, daß das kleine, von wenig Gästen außer der Messe besuchte Haus seinen guten Ruf wohl verdiente. Es fand sich zu mancherlei Unterhaltung Gelegenheit und Lust. Da sie sich aber aus dem Hause wenig entfernen konnte noch durfte, so wurde denn doch der Zeitvertreib etwas mager. Wir sangen die Lieder von Zachariä, spielten den Herzog Michel von Krüger, wobei ein zusammengeknüpftes Schnupftuch die Stelle der Nachtigall vertreten mußte, und so ging es eine Zeit lang noch ganz leidlich.

Fremdenbuch des Kunstkabinetts v. Thomas Richter (UB Leipzig)

Leipzig Ende Apr. 1766

Dr. Schloßer aus Frankfurt am Mayn. Goethe aus Franckfurt am Mayn.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG I, BuG01_A_0055 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG01_A_0055.

Entspricht Druck:
BuG I, S. 74 (Ernst Grumach/Renate Grumach).

Zurück zum Seitenanfang